München - Gregor Gysi ist der wohl bekannteste Linken-Politiker der Republik. Der Rechtsanwalt (75) aus Berlin war vor der Wende Vorsitzender der SED und später der PDS. Von 2005 bis 2015 führte er die Fraktion der Linkspartei im Bundestag, von 2016 bis 2019 war er Präsident der Europäischen Linken und von 2020 bis 2023 außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion. Nun hat er ein neues Buch veröffentlicht – und die AZ hat mit ihm darüber (und über vieles mehr) gesprochen.

AZ: Hand aufs Herz, Herr Gysi: Vertrauen Sie dieser Tage auf die Bahn, wenn Sie einen wichtigen Termin außerhalb Berlins haben oder fahren Sie selbst?
GREGOR GYSI: Ich werde meist gefahren. Wenn es geht, nehme ich allerdings schon die Bahn – wobei dann gelegentlich ein Termin ausfällt, weil der Zug eben gar nicht oder viel zu spät ankommt.

Die Linke steht traditionell den Gewerkschaften nahe. Was erwidern Sie Bürgern, die kein Verständnis dafür haben, dass nach einer Woche wetterbedingtem Bahn-Chaos das System auch noch bestreikt wird?
Man muss immer berücksichtigen, dass ohne Streiks die berechtigten Lohnforderungen der Beschäftigten nicht durchgesetzt werden können. Allerdings finde ich es durchaus vernünftig, dass die Lokführer-Gewerkschaft bis zum neuen Jahr nicht mehr streiken will. Die Weihnachtszeit der Leute zu stören, wäre daneben. Wobei zu der ganzen Diskussion die aktuelle Meldung passt, dass mehrere Millionen Euro an Boni an den Vorstand der Bahn ausgezahlt werden – aber bei den Lokführern gespart werden soll! Dafür fehlt mir das Verständnis. Ich bin generell ein Anhänger von Bonus-Zahlungen, aber diese hier – in Millionen-Höhe – sind überzogen.

In Ihrem neuen Buch sagen Sie, an der CSU sțre sie "Alles und nichts" Рwas soll das bedeuten?
Ihre ganze Art finde ich auf der einen Seite reizvoll: diese bajuwarische Toleranz. Auf der anderen Seite steht diese Haltung, man sei in Bayern von der Regierung überhaupt nicht wegzukriegen. Man verlernt ein bisschen die Demokratie, wenn man über Jahrzehnte regiert und nicht auch mal in die Opposition geschickt wird. Das ist nicht ganz ungefährlich.

Haben Sie denn Anzeichen dafür ausgemacht, dass die CSU die Demokratie verlernt?
Es gibt immer wieder Situationen, in denen sie auch der CDU gegenüber sehr selbstgerecht auftritt, weil sie ja immer glaubt, dass die CDU in Bayern keine Chance hätte, selbst wenn sie es versuchte. Dabei darf die CSU nicht vergessen, dass ihre Chancen in Bremen, Hamburg oder Schleswig-Holstein auch begrenzt wären.

Sie werfen der derzeitigen Staatsregierung zudem mangelndes Verantwortungsgefühl über Bayern hinaus vor.
Das stimmt ja auch! Die Christsozialen dürfen nicht nur Bayern im Blick haben. Sie müssen auch an Deutschland denken, was sie noch versuchen – aber schon bei Europa wird es schwieriger, von den G7, den G20 und der Uno ganz zu schweigen. Die Partei ist nur in einem Bundesland organisiert und ich verstehe ja, dass sie daher darauf achtet, lokal akzeptiert zu sein. Aber trotzdem: In unserer Zeit, bei zwei Kriegen, den anhaltenden Folgen der Pandemie, der Inflation, der Energie-Krise und der eventuell bevorstehenden Klima-Katastrophe muss man über den Rahmen hinausdenken und auch unangenehme Entscheidungen treffen, wenn sie notwendig sind.

Markus Söder fordert Neuwahlen, weil er das Land durch die Ampel, der er die Kompetenz zur Problemlösung abspricht, in Gefahr sieht. Zu Recht?
Na ja, die Ampel ist nicht sonderlich beliebt und sie ist schlicht und einfach überfordert. Aber wenn wir jetzt eine unionsgeführte Regierung hätten, wäre die auch überfordert. Es gäbe nur eine einzige Regierung, die nicht überfordert wäre – und das wäre eine unter meiner Leitung. Kleiner Scherz (lacht). Mit anderen Worten: Das ist im Moment einfach alles zu viel. Hinzu kommt, dass viele Entscheidungen getroffen wurden, bei denen man sich wirklich fragt, ob die Verantwortlichen noch richtig ticken.

Welche Entscheidungen?
Jetzt kaufen wir kein Erdöl mehr von Russland, dafür aber das russische Erdöl von Indien zum doppelten Preis. Das ist ja geradezu genial! Die Ampel operiert nur mit Sanktionen: gegenüber China genau wie gegenüber Russland. Zu Zeiten der DDR hat man Angebote gemacht: Wenn sie West-Journalisten zulässt oder einen Kredit kriegen will et cetera, dann ist dieses oder jenes möglich. Dadurch wurde die DDR verändert. Das war Wandel durch Annäherung – und genau so eine Politik gibt es nicht mehr.

Womit wir wieder beim Thema Boni wären, die Sie in Ihrem Buch nicht nur in der Außenpolitik fordern, sondern auch beim vieldiskutierten Bürgergeld. Die aktuelle Debatte dreht sich um Kosten und Sanktionen – wie soll denn ein Boni-System funktionieren?
Es gibt ein Existenzminimum, das man nicht unterschreiten darf. Das erlaubt unser Grundgesetz nicht. Das bekommt also jede und jeder Betroffene. Die, die wirklich krank sind, und die, die sich engagieren, kriegen einen Bonus obendrauf, eine Belohnung. So schaffe ich Anreize, sich zu engagieren und sich um Arbeit zu bemühen. Wissen Sie, ich kenne beide Fälle: Bürgergeldempfangende, die dringend Arbeit suchen und sich ehrenamtlich engagieren, und solche, die nichts machen – da würde ich einfach unterscheiden.

Das wird in jedem Fall teurer als kalkuliert.
Ja. Dafür könnten wir uns die Ausgaben für die Aufrüstung schenken. Verteidigungsminister Boris Pistorius spricht davon, dass unsere Armee kriegstauglich werden muss.

Muss sie das angesichts der aktuellen Weltlage denn nicht?
Nein. Sie muss verteidigungstauglich sein. Aber mal abgesehen davon: Schweden und Finnland werden Mitglied der Nato mit der Begründung, dass Russland sie dann nicht angriffe. Wir sind aber doch schon in der Nato! Wenn die Regierung den Standpunkt von Schweden und Finnland teilt, warum argumentiert sie dann bei uns damit, dass wir mit einem Angriff Russlands rechnen müssen? Wenn es übrigens tatsächlich dazu käme, hätten wir den Dritten Weltkrieg und von uns bliebe eh nichts übrig. Dafür müssen wir jetzt nicht das Geld verplempern. In einer wirtschaftlichen Krise muss man investieren und die Kaufkraft der Bevölkerung erhöhen, sonst verschärft man die Krise. Aber es ist so schwer, das den jeweiligen Regierungen zu erklären.

Also: weg mit der Schuldenbremse?
Dafür war ich schon immer.

Genug über die anderen, hin zu Ihrer Partei.
Dankeschön, das war's, auf Wiederhören (lacht)!

Auf keinen Fall, Herr Gysi!
Na gut (lacht noch mehr).

Wie sehr schmerzt Sie die Spaltung?
Ich finde sie falsch. Aber nun ist sie vollzogen und es gibt kein Zurück mehr. Die sollen versuchen, ihren Weg zu finden. Ich halte es nur für höchst unmoralisch, dass sie ihre Mandate behalten. Der Wahlkampf ist von der Linken finanziert worden, die Mitglieder haben für die Mandate gekämpft. Selbst wenn wir nur 4,9 Prozent der Stimmen erreicht haben: die jetzt für eine andere Partei zu "stehlen", die nicht gewählt worden ist, ist nicht in Ordnung. Sie werden es trotzdem tun – aber meine Partei muss Entscheidendes begreifen.

Was denn?
Erstens muss die Selbstbeschäftigung aufhören. Zweitens muss die Denunziation enden. Drittens dürfen wir nicht der Laden für die 1000 kleinen Dinge sein, sondern müssen uns auf fünf Fragen konzentrieren, bei denen die Leute auch merken, dass sie gemeint sind.

Welche fünf Fragen sind das?
Erstens eine reale Friedenspolitik; zweitens deutlich mehr soziale Gerechtigkeit einschließlich Steuergerechtigkeit; drittens ökologische Nachhaltigkeit immer in sozialer Verantwortung; viertens die Gleichstellung von Frau und Mann; und fünftens die Gleichstellung von Ost und West.

Was bedeutet reale Friedenspolitik?
Im Unterschied zu den Mitgliedern des Kabinetts bin ich ja kein Militärexperte, von denen es aktuell so viele gibt wie Virologen während der Pandemie. Deshalb traue ich Mark Milley, der jahrelang Generalstabschef der US-Streitkräfte war, und der sagt: Weder Russland noch die Ukraine kann militärisch siegen. Wenn das stimmt, brauchen wir so schnell wie möglich einen Waffenstillstand und gezielte Friedensverhandlungen. Wobei die Regierung, und auch die EU immer sagen: Die Ukraine muss siegen. Aber was heißt das? Russen raus aus dem Donbass oder auch aus der Krim oder – ich übertreibe mal – die ukrainische Flagge auf dem Kreml? Was heißt siegen? Habermas hat zu recht gesagt, die Ukraine darf nicht verlieren.

Und was heißt das?
Man muss sich verständigen. Sie darf Territorium nicht hergeben, eine Aggression darf nicht erfolgreich sein. Aber: Man muss sich auch über die Wiederzulassung der russischen Sprache verständigen, vielleicht auch über die Zulassung doppelter Staatsbürgerschaften und vieles andere mehr.

Was ist mit dem Status der Krim?
In Minsk II gibt es eine Vereinbarung dazu, wann diese Frage wieder erörtert wird. Man könnte sich entweder darauf beziehen – oder eine Regelung für die Zukunft schaffen. Hauptsache, man erreicht einen Waffenstillstand, damit das Töten, das Verletzen und die Zerstörung aufhört.

Seit mehr als zwei Monaten erschüttert die Weltgemeinschaft die blutige Eskalation eines weiteren Konflikts: im Nahen Osten.
Ja, und es ist furchtbar, was die Hamas am 7. Oktober angerichtet hat, da gibt es keinen Platz für irgendein "aber". Man kann diese Verbrechen nur scharf verurteilen: Babys und Kinder zu meucheln, Frauen und andere Zivilisten – indiskutabel! Richtig ist aber auch, dass man jetzt darauf achtet, dass die Zivilbevölkerung in Gaza nicht noch mehr unter den Gegenangriffen der Israelis leidet – und sie leidet bereits erheblich. Aber wissen Sie, was ich wirklich schlimm finde?

Nein. Sagen Sie es mir.
Wir stehen an einer Gabelung. Entweder erleben wir dort einen katastrophalen Flächenbrand – oder wir kommen zu einer Lösung des Nahost-Konflikts. Warum müssen so entsetzliche Morde passieren, damit man endlich zu einer Lösung kommt? Das hätte man schon vorher regeln können. Aber der israelische Ministerpräsident Ehud Barak war der Letzte, der es ernsthaft versucht hat.

Die Linke gilt als propalästinensisch – aber mit wem darf man sich auf der Straße gemein machen?
Auf jeden Fall darf es bei Demonstrationen keine Straftaten geben und für Antisemitismus darf in meiner Partei nie Platz sein. Punkt. Antisemitismus, Rassismus und Fremdenfeindlichkeit – das müssen wir überall überwinden.

Wenn man sich die Umfragewerte der AfD ansieht, die ja vor allem mit der Angst vor Fremden hausieren geht, scheint die Richtung eine andere zu sein. In allen drei Bundesländern, in denen 2024 gewählt wird, liegen die Rechtspopulisten bei über 30 Prozent. Einzig dem Bündnis Sahra Wagenknecht wird von vielen Demoskopen zugetraut, daran etwas zu ändern. Wären die Abtrünnigen vor diesem Hintergrund womöglich ein Partner für die Linke?
Sahra Wagenknecht macht ein dreifaches Angebot: Sie will Flüchtlingspolitik wie die AfD machen, Wirtschaftspolitik wie Ludwig Erhard und Sozialpolitik wie die Linke. Das funktioniert nicht. Das kennen Sie doch aus Bayern: Vor fünf Jahren, als Söder so ein bisschen die AfD-Thesen übernommen hat in der Hoffnung, ihnen Stimmen abspenstig zu machen, hat er am Ende nur die Wahl der AfD legitimiert.

Derzeit arbeitet sich der bayerische Ministerpräsident allerdings am Gendern ab, das er an Schulen und Behörden verbieten möchte. Wie stehen dazu?
Ich finde die Verwendung der weiblichen und männlichen Form völlig richtig. Markus Söder ist Ministerpräsident und wenn es je eine Frau würde, hätte sie das Recht, Ministerpräsidentin zu sein. Doppelpunkt, großes I und Sternchen verwende ich nicht, weil ich nichts schreibe, das ich nicht sprechen kann. Aber ob es gleich ein Verbot sein muss?

Das Interview-Buch "Auf eine Currywurst mit Gregor Gysi" ist im Aufbau Verlag erschienen und kostet 22 Euro.

QOSHE - Gregor Gysis Rundumschlag gegen deutsche Politik: "Ticken die noch ... - Natalie Kettinger
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Gregor Gysis Rundumschlag gegen deutsche Politik: "Ticken die noch ...

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14.12.2023

München - Gregor Gysi ist der wohl bekannteste Linken-Politiker der Republik. Der Rechtsanwalt (75) aus Berlin war vor der Wende Vorsitzender der SED und später der PDS. Von 2005 bis 2015 führte er die Fraktion der Linkspartei im Bundestag, von 2016 bis 2019 war er Präsident der Europäischen Linken und von 2020 bis 2023 außenpolitischer Sprecher der Bundestagsfraktion. Nun hat er ein neues Buch veröffentlicht – und die AZ hat mit ihm darüber (und über vieles mehr) gesprochen.

AZ: Hand aufs Herz, Herr Gysi: Vertrauen Sie dieser Tage auf die Bahn, wenn Sie einen wichtigen Termin außerhalb Berlins haben oder fahren Sie selbst?
GREGOR GYSI: Ich werde meist gefahren. Wenn es geht, nehme ich allerdings schon die Bahn – wobei dann gelegentlich ein Termin ausfällt, weil der Zug eben gar nicht oder viel zu spät ankommt.

Die Linke steht traditionell den Gewerkschaften nahe. Was erwidern Sie Bürgern, die kein Verständnis dafür haben, dass nach einer Woche wetterbedingtem Bahn-Chaos das System auch noch bestreikt wird?
Man muss immer berücksichtigen, dass ohne Streiks die berechtigten Lohnforderungen der Beschäftigten nicht durchgesetzt werden können. Allerdings finde ich es durchaus vernünftig, dass die Lokführer-Gewerkschaft bis zum neuen Jahr nicht mehr streiken will. Die Weihnachtszeit der Leute zu stören, wäre daneben. Wobei zu der ganzen Diskussion die aktuelle Meldung passt, dass mehrere Millionen Euro an Boni an den Vorstand der Bahn ausgezahlt werden – aber bei den Lokführern gespart werden soll! Dafür fehlt mir das Verständnis. Ich bin generell ein Anhänger von Bonus-Zahlungen, aber diese hier – in Millionen-Höhe – sind überzogen.

In Ihrem neuen Buch sagen Sie, an der CSU sțre sie "Alles und nichts" Рwas soll das bedeuten?
Ihre ganze Art finde ich auf der einen Seite reizvoll: diese bajuwarische Toleranz. Auf der anderen Seite steht diese Haltung, man sei in Bayern von der Regierung überhaupt nicht wegzukriegen. Man verlernt ein bisschen die Demokratie, wenn man über Jahrzehnte regiert und nicht auch mal in die Opposition geschickt wird. Das ist nicht ganz ungefährlich.

Haben Sie denn Anzeichen dafür ausgemacht, dass die CSU die Demokratie verlernt?
Es gibt immer wieder Situationen, in denen sie auch der CDU gegenüber sehr selbstgerecht auftritt, weil sie ja immer glaubt, dass die CDU in Bayern keine Chance hätte, selbst wenn sie es versuchte. Dabei darf die CSU nicht vergessen, dass ihre Chancen in Bremen, Hamburg oder Schleswig-Holstein auch begrenzt wären.

Sie werfen der derzeitigen Staatsregierung zudem mangelndes Verantwortungsgefühl über Bayern hinaus vor.
Das stimmt ja auch! Die Christsozialen dürfen nicht nur Bayern im Blick haben. Sie müssen auch an Deutschland denken, was sie noch versuchen – aber schon bei Europa wird es schwieriger, von den G7, den G20 und der Uno ganz zu schweigen. Die Partei ist nur in einem Bundesland organisiert........

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