Das ist natürlich ein Albtraum für einen charmanten Macho (Mark Ruffalo): Da hat man die Kindfrau (Emma Stone) aus dem Londoner Vaterhaus gelöst und unternimmt mit ihr eine sexuell ausschweifende Weltreise, weil sie neugierig, naiv, willig ist – und dann das: Im sündigen Paris der Belle Epoque – die man von Mythen wie dem Moulin Rouge oder Bildern von Toulouse Lautrec kennt – erkennt die Frau, dass Sexarbeit finanzielle Unabhängigkeit von Männern ermöglicht – und wird zur Prostituierten, die Abgründe, Lust und Macht erlebt.

Denn letztlich folgt Yorgos Lanthimos' "Poor Things" einem klassischen Bildungsroman-Schema. Er handelt von einer, die auszog, die Emanzipation zu lernen. Dass es sich um eine Frau handelt, wundert 2024 natürlich nicht, auch nicht, dass sie am Ende der weiblichen Selbstermächtigung als Medizinprofessorin das Labor ihres Ziehvaters übernimmt.

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Fantastisch ist in die Geschichte dieser Bella eine doppelte Frankenstein-Story eingewoben: Bella ist Willem Dafoes "Monster". Als Dr. Godwin Baxter ist er eine Art Frankenstein, ein rationaler, humanistischer Aufklärer, der selbst aber auch "Monster" ist, weil er an sich und seiner tödlichen Krankheit herumexperimentiert. Und mit Bella verfolgt er auch eine eigene Agenda, in der sich Forschung, Ruhmsucht, Väterlichkeit und Erotik schillernd mischen.

Denn Bella Baxter wiederum war eine Selbstmörderin, die er hochschwanger aus der Themse gefischt hat – gehirntot. Aber er pflanzt ihr das Gehirn des Ungeborenen ein, und nimmt sie bei sich auf. Mit diesem Trick kombiniert Lanthimos einen erwachsenen Körper, der noch die ganze Entwicklung duchlaufen muss: vom Gehenlernen über Ich-Gefühl- und Empathie-Entwickeln zur Pubertät, Bildungsreise und Selbstbestimmung.

Das witzige an Lanthimos' Film ist, dass man beim Zuschauen und Nachdenken in einen geistigen Taumel gerät. Dabei schwelgt Lanthiomos optisch in den bizarren, (alp-)traumhaften organischen Formen des Jugendstils. Es ist eine Zeit des gesellschaftlichen Aufbruchs, des Fortschrittsglaubens, der künstlerischen Entfaltung und Emanzipation - inklusive Reisen durch ein Europa, das noch angenehm frei ist von den kommenden Katastrophen des 20. Jahrhunderts. Aber der kindliche Blick unserer Protagonistin entlarvt doch Armut als sozialen Skandal oder das Patriarchat als Ungerechtigkeit.

Bei alledem ist "Poor Things" aber nie verkopft, sondern ein skurriler, witziger, tabuloser Unterhaltungsfilm. Wir erleben Lissabon, in dessen Himmel heißluftballon- und zeppelinartige Flugzeuge schweben. Paris ist ein plüschig-pigalliger Sündenpfuhl, London Hort spätvictorianischer Exzentrik. Und immer mischt der Film in die historischen Illusionen Surreales, sanfte sprachliche Modernismen oder kleine moderne Frechheiten, so dass sich ein zeitlicher Schwebezustand ergibt, der den Film näher an uns heranholt.

Beim anstehenden und schon laufenden Oscar-Kaffeesatzlesen wird "Poor Things" schon groß gehandelt. Kein Wunder: Der Film des Oscar-gewohnten Yorgos Lanthimos ("Lobster", "The Favourite") tut bei aller Wildheit niemandem weh, gleichzeitig ist die weibliche Emanzipationsgeschichte gut im Zeitgeist, und Emma Stone (Oscar für Rollen in "LalaLand" und "The Favorite") spielt radikal zwischen puppenhaft schöner Anmut und Mut zur Hässlichkeit.

Ästhetisch ist der Film ein Feuerwerk – ähnlich Baz Luhrmanns "Moulin Rouge", aber digital gesteigert, optisch durchaus exzentrisch und doch gleichzeitig angenehm ruhig. So ist ein Film entstanden, der zeigt, was nur Kino im Großformat kann.

Kino: Maxim, Rio, City, Leopold (alle auch OmU) sowie Monopol, Arena, Isabella (OmU) und Cinema, Museum (OV)
R: Yorgos Lanthimos, (USA, 139 Min.)

QOSHE - Skurril, witzig, tabulos: Emma Stone ist kein armes Ding - Adrian Prechtel
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Skurril, witzig, tabulos: Emma Stone ist kein armes Ding

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17.01.2024

Das ist natürlich ein Albtraum für einen charmanten Macho (Mark Ruffalo): Da hat man die Kindfrau (Emma Stone) aus dem Londoner Vaterhaus gelöst und unternimmt mit ihr eine sexuell ausschweifende Weltreise, weil sie neugierig, naiv, willig ist – und dann das: Im sündigen Paris der Belle Epoque – die man von Mythen wie dem Moulin Rouge oder Bildern von Toulouse Lautrec kennt – erkennt die Frau, dass Sexarbeit finanzielle Unabhängigkeit von Männern ermöglicht – und wird zur Prostituierten, die Abgründe, Lust und Macht erlebt.

Denn letztlich folgt Yorgos Lanthimos' "Poor Things" einem klassischen Bildungsroman-Schema. Er handelt von einer, die auszog, die Emanzipation zu lernen. Dass es sich um eine Frau handelt, wundert 2024 natürlich nicht, auch nicht, dass sie am Ende der weiblichen Selbstermächtigung als Medizinprofessorin das Labor ihres Ziehvaters übernimmt.

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