Hass ist ein starkes Gefühl. Ein negatives Gefühl. Eines, das man nicht empfinden sollte. Zumindest hat das meine Großmutter immer gesagt: „Hassen tut man nicht.“ Aber was, wenn es doch solchen Spaß macht, Oma? Was, wenn uns hasserfülltes Schauen von Instagram-Stories und Netflix-Sendungen sogar heilen kann? Und was, wenn Generation Z diesen Hass auch noch fördert?

Hast du dich schon mal dabei ertappt, dass du eine Serie geschaut hast, die du schlecht fandest? So schlecht, dass es dich aufgeregt hat? Und du hast trotzdem oder sogar deshalb weitergeschaut? Dann betreibst du es auch: Hatewatching.

Hatewatching (übersetzt Hass-Zuschauen) beschreibt das Konsumieren von Serien, Filmen, Show-Formaten oder Social-Media-Inhalten, die man verachtet. Es wird zum Ventil, um Aggressionen abzubauen. Die Kirsche auf der Torte: Man wird dabei unterhalten. Kein neues Gen-Z-Phänomen. Wutschreiber „Staberl“ löste es bei Boomern aus, „DSDS“ schaffte es bei Millennials und heute übernehmen es Sendungen wie „Germany’s Next Topmodel“ oder „Emily in Paris“.

Auch Fußballfans werden sich ertappt fühlen. Als treuer Fan eines Teams gehört es zum guten Ton, sich gehässig vor die Glotze zu hauen, wenn die gegnerische Mannschaft spielt, und spöttische Kommentare abzugeben. 90 Minuten lang wird gehofft, dass dieses Team das Spiel vergeigt und, wenn möglich, auch noch haushoch. Passiert das, wird gejubelt.

Hasserfülltes Schauen von Content, der negativ berührt, kann gut für die Psyche sein. So empfindet das auch die 25-jährige Katinka, die Hatewatching sogar als ihr Hobby bezeichnet.

Katinka greift zu ihrem Handy. Das von ihr belächelte Influencer-Pärchen, das sie bereits seit vier Jahren auf Social Media verfolgt, hat eine neue Instagram-Story gepostet. In Katinka steigen Glücksgefühle auf. Juhu, sie geben etwas Dummes von sich. „Typisch.“ Katinka fühlt sich in ihrem Hass bestärkt, schickt die Social-Media-Story ihren Freundinnen. Das Glücksgefühl nimmt zu. Die Hatewatcherin ist sich ihrer merkwürdigen Angewohnheit bewusst. „Mein Alltag ist geprägt von Stress“, sagt sie. „Wenn ich nach einem anstrengenden Arbeitstag zu Hause bin, will ich einfach abschalten und was Dummes schauen: Noch besser, wenn ich daran etwas kritisieren kann.“

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Sie sei generell eine Person, die gern in Dramen involviert ist. „Irgendwann wurde mir das in meinem Privatleben zu toxisch“, sagt die 25-Jährige. „Dann habe ich angefangen, Hatewatching zu betreiben. Es empört mich, ich fiebere mit. Mancher Content ist so dumm und inhaltslos und nervt. Perfekt, um mich mit meinen Freundinnen aufzuregen.“

Psychotherapeut Christian Asperger spricht von Sehnsucht. Die Sehnsucht, Hass spüren zu wollen: Hass nicht auf sich selbst, sondern auf etwas, das die eigene Seele nicht berührt. „Es geht dabei darum, absichtlich mit einem Gefühl von Hass in Berührung zu kommen, um etwas zu spüren“, sagt der Experte.

„Emily in Paris ist für mich die wahrscheinlich schlechteste Serie“, sagt Katinka. „Sie ist geprägt von Stereotypen, der Plot ist unrealistisch und es ist rassistisch. Ich hasse Emily in Paris, aber ich warte schon sehr gespannt auf die vierte Staffel.“

Die Welt bietet so viele positive Gefühle: Glück, Freude, Zufriedenheit, Liebe, um nur ein paar zu nennen. Wieso halten sich Menschen wie Katinka mit Hass auf?

Asperger: „Hasst man, begibt man sich in eine aktive Rolle. So kann man sich selbstbestimmt fühlen. Es gibt so viele Situationen, in denen man stillsitzen und etwas über sich ergehen lassen muss.“ Er sieht es als eine Art Bewältigungsstrategie. „Aber wie bei den meisten Coping-Mechanismen kriegt man nicht genug und kann süchtig nach dem Gefühl werden.“

Logisch: Hass unterhält mehr als Langeweile. Manchen genügt es, feiern zu gehen, andere brauchen einen Fallschirmsprung. Bei dem Bedürfnis nach Aufregung, „Sensation Seeking“ genannt, begibt man sich auf die Suche nach einem Kick, mit etwas Aufregendem in Berührung zu kommen.

Reality-Sendungen wie „Germany’s Next Topmodel“ werden medial zerrissen, moralisch hinterfragt und aktiv gehatet. Trotzdem ist Donnerstag, 20:15 Uhr, Fixtermin. Fix ist auch: Model-Ikone Heidi Klum wird etwas Peinliches von sich geben, Teilnehmerinnen werden schikaniert, Zuseher:innen werden sich darauf stürzen. Die deutsche Castingshow feiert 2024 mit fast zehn Prozent Marktanteil neue Rekordzahlen. Das zeigt: Voyeurismus ist ein Aspekt, der bei Hatewatching mitspielen kann.

Der Unterschied: Gesellschaftlich ist Hatewatching im Gegensatz zu Voyeurismus mehr angesehen. Er kann als Ausdruck einer zunehmend kritischen Haltung gegenüber Medieninhalten und der Entertainment-Industrie begriffen werden. In einer Zeit, in der Fragen der Repräsentation, Vielfalt und Ethik immer präsenter werden, suchen Zuschauer:innen nach Möglichkeiten, ihre Stimme zu erheben und auf problematische Inhalte aufmerksam zu machen. Bei Sendungen wie „GNTM“, die von patriarchalen Strukturen und stereotypen Schönheitsidealen geprägt sind, ist Hass darüber zu zeigen schon fast eine Botschaft.

Auch bei Sendungen wie „Emily in Paris“, in denen die Schauspieler:innen und ihre Charaktere besser situiert sind als man selbst, kann man sich schon mal gehässig darüber lustig machen.

Es fühlt sich befriedigend an, eine Model-Ikone, die vor Reichtum strotzt und sich in einem Privatjet durch die Welt fliegen lässt, dabei zu beobachten, wie sie es nicht schafft, eine Gurke zu schneiden (Kendall Jenner, siehe Transparenzseite). Wir suhlen uns im Gefühl, ihr wenigstens in dieser Situation überlegen zu sein.

Katinka ist friedlich, sie hat noch nie Hate-Kommentare unter Youtube-Videos oder Instagram-Beiträge geschrieben. Eine typische Eigenschaft von Hatewatcher:innen: Sie sind genügsam, erfreuen sich an ihrem Gefühl von Hass und Abscheu, leben es aber nicht aus.

Ein Aufatmen für alle: „Emily in Paris“ bekommt eine neue Staffel. „Germany’s Next Topmodel“ wird es mindestens noch so lang geben wie Heidi Klum selbst. Und es werden weiter neue Konzepte entwickelt. Herrlich, dass sich Programmchefs so für unsere psychische Gesundheit einsetzen.

Statt darüber zu schreiben, warum Sendungen wie „Germany‘s Next Topmodel“ im Jahr 2024 nicht mehr zeitgemäß und ethisch fragwürdig sind, befasst sich dieser Artikel damit, warum sie genau deshalb geschaut werden. WZ-Trainee Nora Schäffler ertappte eine Freundin, die Hatewatching zelebriert. Zeitverschwendung? Nein.

Christian Asperger ist systemischer Psychotherapeut, der sich viel mit dem Gefühl Hass auseinandersetzt.

Katinka ist eine 25-jährige Frau, die sich selbst als Hatewatcherin bezeichnet.

Zur Generation Z (kurz: Gen Z) zählt man diejenigen, die grob zwischen Mitte der 1990er-Jahre und den späten 2000er-Jahren geboren wurden. Typische Merkmale der Gen Z sind hohes Kommunikationstempo und Social Media als Instrument der Selbstdarstellung.

Generation Millenials (auch Gen Y genannt) ist die Generation davor, also all diejenigen, die zwischen 1980 und 1994 geboren wurden.

Als Generation Boomer (auch Generation Baby-Boomer genannt) bezeichnet man Menschen, die zwischen 1955 und 1964 geboren wurden. Sie haben den wirtschaftlichen Aufschwung sowie die anschließende Friedensbewegung erlebt und hatten wirtschaftlich nur wenige Krisen zu bewältigen.

„DSDS“ ist die Abkürzung für „Deutschland sucht den Superstar“. Diese Casting-Sendung, die wöchentlich ausgestrahlt wurde, prägte die 2000er-Jahre und wurde zum fixen Bestandteil der Popkultur.

„Germany’s Next Topmodel“ ist eine deutsche Castingshow im Reality-TV-Format, die auf dem Sender ProSieben ausgestrahlt wird. Seit 2006 ist das Topmodel Heidi Klum auf der Suche nach Deutschlands schönstem neuen Model. Trotz zahlreicher Kritik und Shitstorms erzielte das Sendungsformat heuer einen neuen Quoten-Rekord.

„Emily in Paris“ ist eine US-amerikanische Netflix-Serie, die seit Beginn der Ausstrahlung polarisiert. Sie erreicht Höchstzahlen (weshalb es auch eine vierte Staffel geben wird), steht aber häufig in der Kritik. Eigene Podcasts wie „Enemy in Paris“ befassen sich damit, wieso wir es lieben, Emily in Paris zu hassen.

Kendall Jenner ist Model, Reality-TV-Teilnehmerin und Promoterin. Ein Video, das auf Social Media viral ging, sorgte für besonders viel Gelächter: In diesem Clip versucht sie höchst umständlich, eine Gurke zu schneiden. Ohne Erfolg.

DWDL: TV-Einschaltquoten und -Marktanteile: „GNTM“ erwischt stärksten Staffel-Auftakt seit 15 Jahren

Film.at:„Emily in Paris“-Staffen 4: Dreharbeiten haben begonnen

Youtube: Die Jindaouis, persönlicher Blog

Der Standard: Voyeurismus, Überlegenheitsgefühle, Unterhaltung

Der Daumen, der die Welt verändert

Offener Brief: Forderungen gegen digitale Hetzjagden

Wie schön, wenn eine Yacht brennt

„Mama, ich bin kein Marketing-Business“

St. Galler Tagblatt: „Hate-watching“: Wir lieben es, zu hassen

Der Standard: Hatewatching: Warum wir schauen, was uns aufregt

Philosophie Magazin: „Hate Watching“: Warum sind wir fasziniert von dem, was wir hassen?

QOSHE - Haten? Lieben wir! - Nora Schäffler
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Haten? Lieben wir!

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05.05.2024

Hass ist ein starkes Gefühl. Ein negatives Gefühl. Eines, das man nicht empfinden sollte. Zumindest hat das meine Großmutter immer gesagt: „Hassen tut man nicht.“ Aber was, wenn es doch solchen Spaß macht, Oma? Was, wenn uns hasserfülltes Schauen von Instagram-Stories und Netflix-Sendungen sogar heilen kann? Und was, wenn Generation Z diesen Hass auch noch fördert?

Hast du dich schon mal dabei ertappt, dass du eine Serie geschaut hast, die du schlecht fandest? So schlecht, dass es dich aufgeregt hat? Und du hast trotzdem oder sogar deshalb weitergeschaut? Dann betreibst du es auch: Hatewatching.

Hatewatching (übersetzt Hass-Zuschauen) beschreibt das Konsumieren von Serien, Filmen, Show-Formaten oder Social-Media-Inhalten, die man verachtet. Es wird zum Ventil, um Aggressionen abzubauen. Die Kirsche auf der Torte: Man wird dabei unterhalten. Kein neues Gen-Z-Phänomen. Wutschreiber „Staberl“ löste es bei Boomern aus, „DSDS“ schaffte es bei Millennials und heute übernehmen es Sendungen wie „Germany’s Next Topmodel“ oder „Emily in Paris“.

Auch Fußballfans werden sich ertappt fühlen. Als treuer Fan eines Teams gehört es zum guten Ton, sich gehässig vor die Glotze zu hauen, wenn die gegnerische Mannschaft spielt, und spöttische Kommentare abzugeben. 90 Minuten lang wird gehofft, dass dieses Team das Spiel vergeigt und, wenn möglich, auch noch haushoch. Passiert das, wird gejubelt.

Hasserfülltes Schauen von Content, der negativ berührt, kann gut für die Psyche sein. So empfindet das auch die 25-jährige Katinka, die Hatewatching sogar als ihr Hobby bezeichnet.

Katinka greift zu ihrem Handy. Das von ihr belächelte Influencer-Pärchen, das sie bereits seit vier Jahren auf Social Media verfolgt, hat eine neue Instagram-Story gepostet. In Katinka steigen Glücksgefühle auf. Juhu, sie geben etwas Dummes von sich. „Typisch.“ Katinka fühlt sich in ihrem Hass bestärkt, schickt die Social-Media-Story ihren Freundinnen. Das Glücksgefühl nimmt zu. Die Hatewatcherin ist sich ihrer merkwürdigen Angewohnheit bewusst. „Mein Alltag ist geprägt von Stress“, sagt sie. „Wenn ich nach einem anstrengenden Arbeitstag zu Hause bin, will ich einfach abschalten und was Dummes schauen: Noch besser, wenn ich daran etwas kritisieren kann.“

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