Du bist Schuld! Wolfgang M. Schmitt über die „Zeitenwende in den Köpfen“
Du bist überlastet, weil du deine Zeit nicht richtig einteilst. Du verdienst zu wenig Geld, weil du nicht hart genug arbeitest. Du bist verantwortlich für die Klimakatastrophe, weil du deinen Müll nicht richtig trennst – Schuld durchdringt alle Bereiche unserer heutigen Gesellschaft, sie ist die „Grundideologie“ unserer Zeit, sagt Wolfgang M. Schmitt. Sie wird von Politikern ebenso vorgetragen wie von Influencern oder in der eigenen Familie. In ihrem neuen Buch „Selbst schuld!“ prangern er und Ann-Kristin Tlusty an, dass dabei die gesellschaftlichen Verhältnisse ausgeblendet und die Politik aus der Verantwortung genommen wird.
Im Interview mit der Berliner Zeitung erklärt Schmitt, woher diese Ideologie kommt und wie wir uns vor allem vom Schuldgefühl gegenüber dem Staat befreien können. Der bekannte Kulturkritiker plädiert dafür, sich zu trauen, gegen den Strom zu schwimmen, etwa in der Frage von Krieg und Frieden – allen Widerständen des Mainstreams zum Trotz.
„Meinungsvielfalt in der Medienlandschaft“ – Verleger Holger Friedrich und Intendant Daniel Morgenroth im Dialog
•gestern
Herr Schmitt, wie kamen Sie und Ann-Kristin Tlusty auf die Idee, ein Buch über Schuld zu schreiben?
Uns ist aufgefallen, dass der Schulddiskurs allgegenwärtig ist. Ob es um Armut, Ungleichheit oder Klimawandel geht, immer wird das Subjekt adressiert. Das Individuum soll schuld sein an der Misere. Ann-Kristin Tlusty und ich dachten, es wäre interessant, andere Autoren zu fragen, wie sie das Thema Schuld sehen und wo dieser Diskurs besonders präsent ist. Am Ende haben wir in diesem Buch verschiedene Perspektiven versammelt, die zeigen, dass diese Selbstanklage, die immer wieder stattfindet, in sehr viele Bereiche des persönlichen Lebens und der Gesellschaft hineinreicht.
Können Sie ein konkretes Beispiel nennen?
Bis heute reden wir unglaublich viel über den ökologischen Fußabdruck. Aber das ist eine Erfindung der Energiekonzerne, um sich aus der Verantwortung zu stehlen. Nicht die schmutzige Öl- und Gasindustrie ist nach dieser Erzählung für den Klimawandel verantwortlich, sondern der einzelne Konsument, der im Supermarkt ja frei entscheiden kann, welches Produkt er kauft, der frei entscheiden kann, wie er sich fortbewegt und der an seinen ökologischen Fußabdruck denken muss. Und wenn dieser größer wird, dann ist es immer der Einzelne, der dafür verantwortlich ist.
Ein anderes Beispiel: Wir haben jetzt gerade im Zuge der Bürgergelddebatte einen Diskurs, der in die Richtung geht, dass die Leute, die Bürgergeld bekommen oder die im Niedriglohnsektor sind, selbst schuld sind, dass sie so wenig verdienen, sie müssten sich nur mehr anstrengen, wenn sie mehr verdienen wollten. Dabei wird ausgeblendet, dass ein Großteil der Jobs, die wir in Deutschland haben, sehr schlecht bezahlt ist und dass das so gewollt ist. Es ist ein systemisches Problem, dass wir einen so großen Niedriglohnsektor haben, oder dass wir auch durch die Zinspolitik der EZB immer wieder Arbeitslosigkeit produzieren, für die der Einzelne, der arbeitslos wird, nichts kann.
Sie schreiben, Schuld sei zur Grundideologie unserer Gesellschaft geworden. Was meinen Sie damit?
Wenn ich mit Margaret Thatcher davon ausgehe, dass es so etwas wie die Gesellschaft nicht gibt, sondern nur Individuen, dann wird alles am Individuum festgemacht. Das heißt, wenn etwas scheitert, wenn etwas nicht funktioniert, dann ist der Einzelne schuld. Oder man muss sich selbst für schuldig erklären und sich dadurch vielleicht aktivieren, es besser zu machen. Nun bringt ein neoliberales System wie das unsere mit sich, dass es permanent Verlierer produziert. Das wird aber nie als systemische Gewalt begriffen, sondern man sagt denen, die im System verloren haben, auch noch „Du bist selbst schuld“.
Das zieht sich dann durch fast alle Bereiche. Und das funktioniert besonders gut, weil wir immer ein Stück Verantwortung haben und an manchen Dingen tatsächlich selbst schuld sind. Wir können nicht alles der Gesellschaft, dem System oder der Politik in die Schuhe schieben. Aber wenn wir nur den Einzelnen in der Verantwortung sehen, entpolitisieren wir die........
© Berliner Zeitung
visit website