Stand: 27.12.2023, 17:25 Uhr

Von: Paul Mason

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Die Linke hat nach der Ukraine und dem Überfall auf Israel den Kurs verloren. Kolumnist Paul Mason plädiert für eine neue Definition der linken Sozialdemokratie.

In den 1930er Jahren waren die meisten Befürworter der Regime von Hitler und Mussolini auf der rechten Seite der Politik zu finden. In Großbritannien zum Beispiel gab es eine offen pro-hitlerfaschistische Partei und ein bedeutender Anteil der Aristokratie war vom Dritten Reich geblendet fasziniert. Anders die Linke, die vehement Widerstand leistete. Als etwa die Komintern ihre britische Anhängerschaft aufforderte, 1939 einen „Volksfrieden“ mit Deutschland zu schließen, um den Molotow-Ribbentrop-Pakt zu unterstützen, weigerten sich Tausende, dies zu tun.

Heute hingegen ist die Mehrheit der Menschen, die offen mit den geopolitischen Zielen von Putin und Xi Jin Ping übereinstimmen, links. Ihre Forderungen nach Entwaffnung der Ukraine stießen dabei meist auf taube Ohren. Ihre Forderungen nach einer „globalen Intifada“, ihr Lob für die Hamas als „Widerstandsbewegung“ und ihre Entschlossenheit, Israel selbst für die Gräueltat vom 7. Oktober verantwortlich zu machen, jedoch nicht.

Die Unterstützung der Linken für autoritäre Nationalisten ist in kleiner Zeit zum großen Problem geworden. Und für all jene, die auf der linken Seite der Sozialdemokratie stehen, ist das das damit zu ihrem Problem geworden.

Um das Ausmaß der Gefahr zu verstehen, sollten wir die Parallelen zu den 1930er Jahren näher betrachten. Hitler und Mussolini kontrollierten die Universitäten. Die elitären Einrichtungen waren ohnehin von der aristokratischen Kultur durchdrungen und boten wenig Platz für die Linke. Heute geht bis zur Hälfte der jungen Menschen an die Universität. Wenn sie dort lernen, dass die Hamas eine „Widerstandsbewegung“ ist und dass es - wie drei US-Hochschulrektoren bekräftigten - kein Verbrechen ist, den Massenmord an Juden zu befürworten, hat das einen viel größeren Einfluss auf die Gesellschaft.

Es kann eine Linke geben, die sowohl humanistisch als auch radikal ist.

In den 1930er Jahren hatten die demokratischen Staaten fast ein Monopol auf den Rundfunk und konnten der Propaganda der Totalitaristen einen vorbildlichen liberalen Journalismus entgegensetzen. Heute wird der liberale Journalismus von Informationskanälen überrollt, die ausdrücklich der Desinformation dienen. Und der Konsument dieser Desinformation ist nicht mehr die Familie, die sich um das Radio versammelt, sondern die einzelne Person - selbst 13-Jährige -, die überzeugenden Lügen ausgeliefert ist.

Außerdem gab es in den 1930er Jahren einen deutlichen Unterschied zwischen den Werten der Linken und der Rechten. Die KPD ahmte manchmal die Nazis nach und kollaborierte sogar taktisch mit ihnen bei der preußischen Landtagsabstimmung von 1931. Aber Imperialismus versus Antiimperialismus, Patriarchat versus Feminismus und religiöser Konservatismus versus Säkularismus markierten klare Trennlinien.

Heute erleben wir das Aufkommen dessen, was in Amerika als „Konfusionismus“ bezeichnet wird. Wir haben linke Social-Media-Stars, deren Hauptanliegen denen der extremen Rechten nahe zu kommen scheinen - in Bezug auf Einwanderung, Gendern und Widerstand gegen den Klimawandel - und die gleichzeitig die geopolitischen Ziele Russlands voll unterstützen.

Leider wird Deutschland bald eine „konfusionistische“ Partei haben. Das Bündnis Sahra Wagenknecht wird im Januar 2024 an den Start gehen und das Etikett „links“ ablehnen, um Antimigrationspolitik mit wirtschaftlicher Umverteilung zu verbinden.

Wäre dies nur eine Wiederholung der „rot-braunen“ Politik der 1930er Jahre, wäre es nicht so gefährlich. Nur sehr wenige linke Jugendliche werden sich von dünnhäutigen Vorurteilen gegen Minderheiten angezogen fühlen.

Aber das Problem geht tiefer. Wir sehen es in dem berüchtigten Brief der Harvard-Studenten, der die Israelis für ihre eigene Ermordung verantwortlich macht. Wir sehen den offenen Antisemitismus einiger Linker auf den Gaza-Demos. All das ist der Triumph des Irrationalismus und Antihumanismus, der das Erbe der akademischen Postmoderne ist.

Als Michel Foucault lehrte, dass „die Menschheit ein soziales Konstrukt“ ist, als Louis Althusser die Geschichte als „Prozess ohne Subjekt“ beschrieb, als Bruno Latour das wissenschaftliche Labor als eine Form der Stammesgesellschaft ohne Bezug zur Wahrheit beschrieb, legten sie den Grundstein für das, was jetzt geschieht. Es handelt sich um die Rückkehr eines Stalinismus ohne Stalin (auch wenn einige auf der extremen Seite den sowjetischen Massenmörder selbst gerne wieder auferstehen lassen würden).

Die theoretische Prämisse des Stalinismus war immer der Antihumanismus. Die humanistischen Prämissen des Marxismus mussten geleugnet, verdrängt oder als Jugendfehler erklärt werden. Wenn es kein „menschliches Wesen“ gibt, dann ist es nicht verwerflich, im Namen des historischen Fortschritts Millionen von Menschen im Gulag zu versklaven.

Nach dem Zusammenbruch der UdSSR nahm ich - und mit mir auch andere - an, dass dieser dogmatische „Maschinensozialismus“ mit der Generation, die ihn propagiert hatte, sterben würde. Aber er ist zurückgekehrt, über den Poststrukturalismus in den Geisteswissenschaften, um eine Standardideologie zu werden, deren Antworten genauso leicht zu übernehmen sind wie der auswendig gelernte Parteikatechismus der DDR.

Es kann eine Linke geben, die sowohl humanistisch als auch radikal ist. Es kann eine Linke geben, die es versteht, die Palästinenser gegen Kriegsverbrechen zu verteidigen und gleichzeitig das Existenzrecht Israels zu verteidigen. Es kann eine Linke in der akademischen Welt geben, die bereit ist, die formale Logik wieder durchzusetzen und jungen Menschen beizubringen, Sätze wie „wir machen das israelische Regime für alle Gewalt verantwortlich“ ins Lächerliche zu ziehen.

Aber nur, wenn wir dafür kämpfen.

Der englische Historiker Edward Thompson vertrat in den 1970er Jahren die Ansicht, dass es zwei Linke gibt und dass sie unvereinbar sind: die eine ist ein Dogma, die andere eine Tradition der aktiven Vernunft. Die eine erkennt ihre Schuld gegenüber dem Liberalismus und der Aufklärung an, die andere verachtet den Liberalismus und betrachtet die Aufklärung als einen Fehler.

Er hatte Recht. Und die logische Schlussfolgerung ist, dass sie sich gegenseitig bekriegen sollten.

Es sollte uns nicht überraschen, dass Teile dieser „Linken“ zur Vorhut des Putinismus und zum Hort des Antisemitismus geworden sind. Was uns, die liberale Linke, beschämen sollte, ist, wie schwach unser Widerstand war. Bis jetzt.

Paul Mason ist Autor in London. Seine Texte für die FR hat bisher Thomas Kaspar übersetzt.

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Paul Mason: Für eine humanistische und radikale Linke

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27.12.2023

Stand: 27.12.2023, 17:25 Uhr

Von: Paul Mason

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Die Linke hat nach der Ukraine und dem Überfall auf Israel den Kurs verloren. Kolumnist Paul Mason plädiert für eine neue Definition der linken Sozialdemokratie.

In den 1930er Jahren waren die meisten Befürworter der Regime von Hitler und Mussolini auf der rechten Seite der Politik zu finden. In Großbritannien zum Beispiel gab es eine offen pro-hitlerfaschistische Partei und ein bedeutender Anteil der Aristokratie war vom Dritten Reich geblendet fasziniert. Anders die Linke, die vehement Widerstand leistete. Als etwa die Komintern ihre britische Anhängerschaft aufforderte, 1939 einen „Volksfrieden“ mit Deutschland zu schließen, um den Molotow-Ribbentrop-Pakt zu unterstützen, weigerten sich Tausende, dies zu tun.

Heute hingegen ist die Mehrheit der Menschen, die offen mit den geopolitischen Zielen von Putin und Xi Jin Ping übereinstimmen, links. Ihre Forderungen nach Entwaffnung der Ukraine stießen dabei meist auf taube Ohren. Ihre Forderungen nach einer „globalen Intifada“, ihr Lob für die Hamas als „Widerstandsbewegung“ und ihre Entschlossenheit, Israel selbst für die Gräueltat vom 7. Oktober verantwortlich zu machen, jedoch nicht.

Die Unterstützung der Linken für autoritäre Nationalisten ist in kleiner Zeit zum großen Problem geworden. Und für all jene, die auf der linken Seite der Sozialdemokratie stehen, ist das das damit zu ihrem Problem geworden.

Um das Ausmaß der Gefahr zu verstehen, sollten wir die Parallelen zu den 1930er Jahren näher betrachten. Hitler und Mussolini kontrollierten die Universitäten. Die elitären Einrichtungen waren ohnehin von der........

© Frankfurter Rundschau


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