menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

„Es fällt schwer, über etwas zu sprechen, das nicht sichtbar ist“

29 0
21.06.2024

fluter.de: Frau Brotherus, wenn Sie an Ihre Kindheit in den 1970ern und 80ern zurückblicken: Welches Verhältnis hatten Sie damals zum Essen und zu Ihrem Körper?

Hanna Brotherus: Meine jüngere Schwester und ich haben schon früh den Umfang unserer Armgelenke und Oberschenkel gemessen. Wir haben uns früh für unsere und andere Körper interessiert und dachten damals, das sei normal. Unsere Eltern haben es uns nie anders vorgelebt: In unserer Familie wurden Körper stets kommentiert und bewertet. Meine Schwester war kleiner und dünner als ich, hatte sogar dünnere Haare. Ich fühlte mich immer zu dick. Trotzdem habe ich gern Süßigkeiten gegessen. Wir haben Eis selbst gemacht und uns damit den Bauch vollgeschlagen. Doch irgendwann hat meine Schwester aufgehört zu essen. Da muss sie so zwölf gewesen sein.

Welchen Einfluss hatte die Magersucht Ihrer Schwester auf Sie?

Ich war wütend, dass sie nicht mehr mit mir Eis essen oder die Backreste aus der Schüssel kratzen wollte. Ich war eifersüchtig, weil sie die gesamte Aufmerksamkeit bekam – von meinen Eltern, von Ärzten, von Mitschülern. Irgendwann war sie das dünnste Mädchen in der Schule. Aber natürlich habe ich mir auch Sorgen um sie gemacht. Daher habe ich irgendwann angefangen, umso mehr zu essen.

Sie haben ebenfalls eine Essstörung entwickelt.

Ja, allerdings habe ich das damals nicht so wahrgenommen. Ich wollte meinen Eltern keine zusätzliche Last sein. Ich habe versucht, ein gutes Mädchen zu sein: gute Noten zu schreiben, immer die Hausaufgaben zu machen. Und ich wollte meine Eltern glücklich machen, indem ich aß. Irgendwann habe ich versucht, das mehr zu essen, was meine Schwester nicht mehr essen konnte. Ich saß in meinem Zimmer und habe Schokolade in mich reingestopft und glaubte, dass ich sie damit retten könnte. Doch stattdessen war sie irgendwann so dünn wie ein Strich, und ich wurde dicker. Uns ging es beiden nicht gut in unseren Körpern – doch nur bei ihr sah man eine Krankheit.

In Ihrem Roman beschreiben Sie die Essstörung Ihrer Schwester als Familienkrankheit, gar als Familienfluch.

Ich glaube, dass es in unserer Familie gewisse Vorbelastungen gab, die dazu geführt haben, dass meine Schwester krank wurde. Wir wurden als Mädchen dazu erzogen, immer brav zu sein, niemals wütend. Nach außen sollte unsere Familie aussehen, als sei alles schön, als hätten wir alles unter Kontrolle, das wurde uns eingeschärft. Gleichzeitig waren wir beide freie........

© Fluter


Get it on Google Play