Unten im Publikum rhythmisches Klatschen, oben auf der Bühne selbstzufriedene Gesichter, und hinten im Cateringbereich, da schäumte schon die Zapfanlage. Ohne mich. Ich war auf dem Heimweg, hatte genug gehört von „Rahmen setzen“ und „Linien ziehen“ und „Kompass finden“, wollte draußen googeln, wo Friedrich Merz seine Ausbildung zum Brandmaurer gemacht hatte, als doch noch jemand das Wort ergriff: „Wir schließen wie immer mit der Nationalhymne.“ Dann sangen sie von Einigkeit und Recht und Freiheit. Nicht inbrünstig, aber entschlossen. Und ich?

Ein Stich ins Herz, halsaufwärtssteigende Unsicherheit, und dann, weil ich hier so unvermittelt gezwungen wurde, mich mit meinem Deutschsein zu beschäftigen, hätte ich doch gerne ein Bier bestellt.

Nüchtern betrachtete ich also meine Polen-BRD-Migrationsgeschichte und fragte mich nach einer gedanklichen Abkürzung von knapp vier Jahrzehnten, ob es ein Remigrationsgrund sein könnte, dass ich nicht mehr weiß, wann ich zum letzten Mal die Nationalhymne gesungen habe. Und weil mein Blick irgendeinen Halt suchend die Halle streifte und er ja da oben auf der Bühne stand, für das deutsche Vaterland, sah ich Friedrich Merz an: groß, hager, offenbar im Reinen mit sich, seiner Partei und der doch noch zu seinen Gunsten korrigierten Geschichte.

„Poller-Ärger“, „Kuss-Ärger“, „Ampel-Ärger“: Sind linke Wähler unglücklicher als rechte?

21.02.2024

Welche Chancen Martin Sellner in Chemnitz verpasste

26.02.2024

Die Parteispitze der kommenden Kanzlerpartei CDU ist gerade auf Deutschlandtour. Es gab Grundsatzprogrammkonferenzen in Mainz, Hannover, Chemnitz, Köln und Stuttgart, am 22. März steigt das große Finale in Berlin. Bis dahin werden alle Rahmen gesetzt, jede Linie gezogen und auch ein Kompass gefunden sein. Oder wie es im offiziellen Parteisprech heißt: „Nach 1978, 1994, 2007 geben wir uns das vierte Grundsatzprogramm unserer Geschichte.“ Auf einem Bundesparteitag im Mai soll es beschlossen werden.

Ich war in Chemnitz dabei, sah aus einem Berlin-Sachsen-Migrationshintergrund meinen Ministerpräsidenten Michael Kretschmer sagen: „Ich weiß, wie die Menschen denken in diesem Land. Sie denken wie die Union.“ Hörte meinen Innenminister Armin Schuster: „Wir sind die Guten.“ Den Spitzenkandidaten für die Landtagswahlen in Thüringen Mario Voigt: „Es ist nicht schlimm zu sagen, dass wir 2015 Fehler gemacht haben.“ Dann Philipp Amthor, Mitglied der Grundsatzkommission: „Niemand in diesem Land muss sich schämen, wenn er die Migrationspolitik kritisiert.“ Und am Ende des Abends versprach Friedrich Merz: „Einen echten Politikwechsel gibt es nur mit einer starken CDU.“ Applaus, danach lasst uns alle streben, brüderlich, mit Herz und Hand!

09.03.2024

•vor 1 Std.

•gestern

08.03.2024

•vor 6 Std.

Auf dem Nachhauseweg fiel es mir wieder ein: mein letztes Mal Nationalhymne. Es muss vor dem Halbfinale gegen Italien gewesen sein, damals 2006, als die Welt zu Gast bei Freunden war und Deutschland entspannt patriotisch drauf. Dann dachte ich an Mesut Özil und Angela Merkel, die ich einmal fast gewählt hätte, und fragte mich: Könnte ich auch Friedrich Merz fast wählen?

Soweit ich ihn richtig verstanden habe in Chemnitz, ist er sehr stolz darauf, dass eine seiner alten Ideen gerade neu aufgelegt wird: die Leitkultur. Das sei etwas, sagte Merz, was diese Gesellschaft im Kern zusammenhält. Dafür haben wir doch das Grundgesetz, dachte ich. Und Bier. Und Fußball. In drei Monaten beginnt die Europameisterschaft. Dann wird sich zeigen, ob wir noch freundliche Gastgeber sind. Und ob ich die Nationalhymne singe.

In der Kolumne „Ostbesuch“ berichtet Paul Linke alle zwei Wochen aus seinem Zwischenleben in Chemnitz und Umgebung. Sachsen sucks? Von wegen!

QOSHE - Hat Friedrich Merz eine Ausbildung zum Brandmauerer gemacht? - Paul Linke
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Hat Friedrich Merz eine Ausbildung zum Brandmauerer gemacht?

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11.03.2024

Unten im Publikum rhythmisches Klatschen, oben auf der Bühne selbstzufriedene Gesichter, und hinten im Cateringbereich, da schäumte schon die Zapfanlage. Ohne mich. Ich war auf dem Heimweg, hatte genug gehört von „Rahmen setzen“ und „Linien ziehen“ und „Kompass finden“, wollte draußen googeln, wo Friedrich Merz seine Ausbildung zum Brandmaurer gemacht hatte, als doch noch jemand das Wort ergriff: „Wir schließen wie immer mit der Nationalhymne.“ Dann sangen sie von Einigkeit und Recht und Freiheit. Nicht inbrünstig, aber entschlossen. Und ich?

Ein Stich ins Herz, halsaufwärtssteigende Unsicherheit, und dann, weil ich hier so unvermittelt gezwungen wurde, mich mit meinem Deutschsein zu beschäftigen, hätte ich doch gerne ein Bier bestellt.

Nüchtern betrachtete ich also meine Polen-BRD-Migrationsgeschichte und fragte mich nach einer gedanklichen Abkürzung von knapp vier Jahrzehnten, ob es ein Remigrationsgrund sein könnte, dass........

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