Deutschland vor der Fußball-EM 2024: Wir brauchen kein Sommermärchen 2.0
Es war einmal ein Sommer, einer von der zögerlichen Sorte, denn auf irgendwas schien er noch zu warten. Anfang Juni lagen die Temperaturen bei knapp über zehn Grad. In Berlin fiel Schneeregen, am Niederrhein froren die Erdbeeren und in Brandenburg zitterten die Bauern um ihre Spargelernte.
Als wäre ein schrecklicher Urteilsspruch des Schicksals ergangen, hatte Deutschland sich wenige Tage vor dem Eröffnungsspiel der Fußballweltmeisterschaft 2006 unter eine graue Wolkendecke verkrochen. Lag da wie verkatert. Gruselte sich vor Bruno, der in Oberbayern wieder ein paar Schafe gerissen hatte. Und ein bisschen auch vor der nahenden Fusion von PDS und WASG. Ahnte jedenfalls nicht, dass das größte Besäufnis des neuen Jahrtausends bevorstand.
18 Jahre später sind die Linke (fast) und der Problembär (leider) tot, das schlechtes Wetter und schlechte Laune machende Tiefdruckgebiet „Lella“ längst vergessen. Die neueste Lichtgestaltenforschung geht inzwischen davon aus, dass die Wolken pünktlich zum Turnierstart verschwanden, nachdem der deutsche Fußballkaiser Franz Beckenbauer in seinen Hubschrauber gestiegen war, um höchstpersönlich beim Wettergott vorzusprechen.
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Woran wir uns sehr gut erinnern, das ist dieses plötzliche Stimmungshoch, das mit fanmeilenweiter Ausgelassenheit, partypatriotischem Fahnenschwenken und Autohupen über uns zog, vier Wochen lang blieb. Wir erinnern uns an Schlaaaaand, schwarz, rot, geil, einen Soundtrack der Sorglosigkeit – ans sogenannte Sommermärchen. Verfilmt von Sönke Wortmann, Schweinicam inklusive. Gekauft von deutschen Fußballfunktionären für ein paar Millionen Euro, ja mei. Es hat sich doch gelohnt, oder?
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Das Sommermärchen war nicht nur gefühlt eine identitätsstiftende Erfahrung, biografieprägend für so viele. Wir liebten Klinsi, Jogi, alle drei Olis und natürlich Poldi, der aus seinem Migrationshintergrund schießen musste und schoss und traf, zweimal im Achtelfinale gegen Schweden.
Es war eine Zeit der Selbstfindung, eines scheinbar unverkrampften Umgangs der Deutschen mit sich selbst. Wir feierten von Spiel zu Spiel. Gleichzeitig knallte ein Dreifachwumms für das Image eines Landes, das sich selbst gegenüber immer so misstrauisch war, antrainierte Hemmungen hatte, seine nationalen Symbole zu zeigen. Aus gutem Grund, versteht sich. Und das erst von den anderen hören musste, dass es okay sein kann, an sich zu glauben, auf sich stolz zu sein. Auf dem Fußballplatz und außerhalb.
Bereits in der zweiten Turnierwoche schrieb die BBC in ihrem World Cup Blog: „Wir alle lieben die Deutschen!“ Und staunte: „Ist es nicht lustig, wie zehn Tage Fußball die Vorstellungen so vieler Menschen über andere Nationen verändern können?“ Das französische Magazin L’Express, das Bilder von Menschen mit türkischen........
© Berliner Zeitung
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