Der Mythenforscher Joseph Campbell (1904–1987) „erkannte in den Urgeschichten der Völker archetypische Grundstrukturen der menschlichen Seele wieder“: Stets müsse der Held irgendeine Form der Trennung vom Gewohnten durchmachen, werde dann durch seine neuen Erfahrungen verwandelt und müsse schließlich zurückkehren, um seine neu gewonnene Reife zum Besten der Gemeinschaft einzusetzen, die ihn einst in sein Abenteuer der Selbstwerdung entließ.

Der praktische Wert des Archetyps der „Heldenreise“ für fiktionales Schreiben wird von Christopher Vogler in seinem Weltbestseller „The Writer’s Journey“ dargelegt. An diesem „Monomythos“ setzt der Berliner Maler und Publizist Raymond Unger an und entwickelt im Wege einer konsequenten Psychologisierung des Themas eine ungewohnte, aber erhellende Sichtweise von Gesellschaft und Politik.

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Geschichten im Schema der Heldenreise berühren uns für Unger deshalb immer, weil sie nicht zufällige Begebenheiten erzählen, sondern uns die Struktur der menschlichen Psyche spiegeln. Die Heldenreise, so die Grundthese des Buchs, symbolisiere den Pfad einer gesunden Persönlichkeitsentwicklung (oder „Selbstwerdung“).

Kindliche Prägungen und Verletzungen, oft als „das Unbewusste“ oder „das innere Kind“ bezeichnet, müssten vom Erwachsenen noch einmal aufgerufen, notfalls unter Schmerzen voll gewürdigt und dann als „erkanntes Erleben“ (Ayya Khema) in das Selbstbild integriert werden. „Nur das Wiedererleben und Anerkennen der geleugneten (Kindheits-)Gefühle lässt den Menschen wieder ganz werden.“

Nur so werde der Mensch von dem frei, was C.G. Jung den psychologischen „Schatten“ nannte. Erst nach vollzogener Selbstwerdung seien wir nicht mehr Getriebene von Vermeidungs- oder Kompensationshandlungen, mit denen wir den Kampf mit dem „Drachen“ unserer früheren Kränkungen und Traumata auszuweichen suchten.

Durchleben wir den Aufbruch, den Durchbruch zum Selbst und die Rückkehr in unsere Gemeinschaft als ihr diesmal wirklich erwachsenes Mitglied, so werden laut Unger emotionale Kapazitäten frei, um anderen mit mehr Verständnis und Mitgefühl zu begegnen.

Rigides Be- und Verurteilen anderer wird nicht mehr wie früher benötigt, um im anderen das zu bekämpfen, was man in sich selbst fürchtete oder schamhaft versteckte. Vor allem werde der Mensch durch das Niederringen seines ganz persönlichen „Drachens“ unlustig, sein Dasein in anspruchslosem Konformismus zu verbringen: „Die wirkliche Aufgabe des Helden besteht jetzt in der Suche nach seiner wahren Berufung.“

So weit, so persönlich. Unger wendet seine Überlegungen mittels einer einfachen Analogie ins Gesellschaftliche und Politische: Der Einzelne ist seinem Unbewussten untertan, solange er die Heldenreise zum Selbst noch nicht absolviert und so die souveräne Deutung seiner Lebensgeschichte für sich reklamiert hat.

Und in derselben Weise, so Ungers These, sei der Bürger so lange tatsächlich unmündig, wie er nicht Klarheit gewinne über die Einflussnahme interessierter Parteien auf seine Meinungsbildung und Lebensumstände. Ungers Analyse der Zeitläufte ist facettenreich, aber einfach und deutlich, was die Grundstruktur eines technokratischen Herrschaftsmodells angeht, das im Corona-Geschehen erstmals vollständig in Aktion zu beobachten gewesen sei.

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„Enorme Geldmengen in den Händen weniger Oligarchen“ hätten „globale Kartelle“ geschaffen, die „mit Hilfe des Geschäftsmodells Philanthropie supranationale Organisationen gekapert haben“. Das Oligopol aus Big-Tech- und anderen Konzernen arbeite so mit Regierungen und oligarchisch finanzierten NGOs zusammen, dass mittlerweile „top-down die grundsätzliche Fahrtrichtung der Massenmedien“ bestimmt werden könne. Damit sei der Weg frei „zur Erpressung souveräner Staaten. Denn wer die Meinung der Bürger kontrolliert, der kann auch nationale Politiker vor sich hertreiben.“

In einer solchen machtpolitischen Gemengelage – so warnt uns Unger – könne massenweise psychologische Unreife im Privaten fatale Folgen für die Politik haben: Genauso, wie ein unreifer Mensch in seiner Mitwelt Mutter und Vater sucht, um doch noch zu erlangen, was ihm als Kind verweigert oder zu wenig gegeben wurde, oder um weiter die als Kind eingeübten Ge- und Verbote als der elterlichen Liebe wertes gutes Kind rituell einzuhalten – ganz so wird ein über die Gefährdung durch „große Konzentrationen von Geld und Einfluss“ (Noam Chomsky) schlecht informierter Bürger allzu leicht die Marketingerzählungen gut organisierter Oligarchen glauben, die uns Sicherheit vor immer neuen, realen oder angeblichen Bedrohungen zum Preis unserer Freiheit versprechen.

Im Laufe der logisch klar gegliederten Ausführungen bringt hier und da der Originalitätsstolz des erfolgreichen Selfmadekünstlers Raymond Unger viel Persönliches ins Spiel, das rein argumentativ nicht immer vonnöten wäre. Jedoch dient manches Selbstbekenntnis hier wohl auch der Illustration der vorgestellten Theorie.

Es lohnt sich für jeden, der die Gegenwart als Krise erlebt, Raymond Ungers ungewöhnlicher Zeitdiagnose auch in ihre Verästelungen zu folgen. Den Anhängern demokratischer Regierung und freiheitlicher Kultur muss an möglichst vielen individuellen Heldenreisen „vom infantilen Untertanen zum mündigen und souveränen Bürger“ gelegen sein.

Raymond Unger: Die Heldenreise des Bürgers. Europa-Verlag, München 2023, 404 Seiten, 25 Euro

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Das Seelische ist politisch: Raymond Unger

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11.12.2023

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