Der 26. Juni 2022 war der Tag, an dem Kay Bernstein Präsident von Hertha BSC wurde. Es war ein sonniger Sommersonntag. Als der Wahlleiter im Berliner City Cube bei der außerordentlichen Mitgliederversammlung verkündete, Bernstein sei mit einfacher Mehrheit gewählt, herrschte von einer Sekunde auf die andere Stadionatmosphäre in dem heruntergekühlten Saal: Hertha-Anhänger in den ersten Reihen sprangen auf, reckten beide Arme nach oben wie sonst beim Jubel über ein Tor. Ihre Geste animierte Menschen in den Sitzreihen weiter hinten dazu, aufzuspringen. „Ha, ho, he, Hertha BSC“, riefen sie. „Ha, ho, he.“ Alle im gleichen Rhythmus. Alle gemeinsam. Wie in der Ostkurve. Dort, wo Kay Bernstein als Jugendlicher und junger Erwachsener stand. Er war einer, der viele animierte.

Kay aus der Kurve, das Wendekind aus dem Osten, das längst zu einem erfolgreichen Agenturchef in Neukölln geworden war und bei Hertha auf der VIP-Tribüne saß, hatte sich durchgesetzt gegen West-Berliner Seilschaften, gegen den Reinickendorfer Unternehmer und früheren CDU-Politiker Frank Steffel, gegen das Establishment. Bernstein holte damals im City Cube tief Luft. Er sagte zu den Hertha-Mitgliedern: „Vielen Dank für euer Vertrauen. Vielen Dank für eure entgegengebrachte Verantwortung. Unsere alte Dame liegt auf der Intensivstation. Wir können sie von innen heilen. Das geht nur zusammen. Jeder von euch kann mithelfen, damit wir wieder unsere blau-weiße Seele zurückgewinnen. Danke. Und: ha, ho, he.“

•heute

14.01.2024

12.01.2024

gestern

14.01.2024

Am Tag nach der Wahl schrieb ich in der Berliner Zeitung einen Text mit der Überschrift: „Das spannendste Fußballprojekt der Welt: Hertha BSC und Präsident Kay Bernstein“. Am Abend schickte Bernstein mir eine Nachricht, in der stand, er habe beim Lesen des Textes Tränen in den Augen gehabt: „Ich spüre die Energie der Hoffnung in den Menschen da draußen. Das wird uns antreiben und uns besser machen. Schreiben wir eine Geschichte ...“

Die Geschichte von Hertha-Präsident Kay Bernstein ist nur knapp eineinhalb Jahre später auf tragische Weise plötzlich zu Ende gegangen. Um 12.26 Uhr verschickte der Berliner Fußballklub aus dem Westend eine Pressemitteilung, in der stand: „Am heutigen Dienstag hat Hertha BSC die furchtbare Nachricht erhalten, dass Präsident Kay Bernstein im Alter von 43 Jahren unerwartet verstorben ist. Der gesamte Verein, seine Gremien und Mitarbeitenden sind fassungslos und zutiefst bestürzt. Die Hertha-Familie trauert mit Kays Hinterbliebenen und ist in dieser schweren Zeit in Gedanken bei seiner Familie, seinen Freunden und Wegbegleitern.“

Kay Bernstein: Präsident von Hertha BSC plötzlich verstorben

•vor 1 Std.

Hertha-Präsident Kay Bernstein: „Wir brauchen keine 27 Ja-Sager“

13.10.2023

Nach Recherchen der Berliner Zeitung gab es am Dienstagmorgen in seinem Wohnhaus in Hoppegarten einen Notarzteinsatz. Bernstein hinterlässt seine Frau, die er im vorigen Spätsommer geheiratet hatte, und eine kleine Tochter. Die Spieler aus der Zweitliga-Mannschaft von Hertha BSC stellten im Laufe des Dienstags Schwarz-Weiß-Fotos ihres verstorbenen Präsidenten in ihre Instagram-Storys, dazu Emojis betender Hände, Herzen, weiße Tauben. Kapitän Toni Leistner schrieb: „Absolut fassungslos.“

Bernstein war beliebt im Team und beliebt bei den Fans. Die Fußballer mochten seine Nahbarkeit, seine Bodenständigkeit, die Hertha-Anhänger ebenso, eigentlich alle, die mit ihm zu tun hatten. Er war einer zum Anfassen, zum Selfies-Machen, zum Knuddeln und einer, der seine Bockwurst mit einem kleinen Jungen teilte, weil er einfach fand, der kleine Kerl sehe hungrig aus. „Als Präsident von Hertha BSC hat es Kay Bernstein verstanden, Menschen zusammenzubringen und zu zeigen, wie wichtig Werte im Sport sind. Er hat Brücken gebaut und war eine echte Integrationsfigur“, würdigte ihn Thomas Härtel, der Präsident des Berliner Landessportbundes.

Die blau-weiße Jacke aus Herthas Merchandising-Kollektion, die Bernstein stets trug, ist längst Kult geworden, tausendfach verkauft. Auch Trainer Pal Dardai, Rekordspieler bei Hertha BSC, mochte Bernstein und stand hinter dessen sowohl finanziell als auch idealistisch getroffener Entscheidung, künftig vor allem auf Berliner Talente zu setzen: „Dieser Weg gefällt mir“, sagte Dardai.

Auf diesem Weg, zu dem auch der Aufbau einer Frauenfußball-Abteilung gehörte, hatte Bernstein schon nach 500 Tagen mehr erlebt als andere Präsidenten in zehn Jahren, wie er selbst mal resümierte. Er schob nicht nur viele Veränderungen im Kommunikationsstil, im Umgang miteinander, in der Außendarstellung von Hertha BSC an, er musste auch immer wieder auf Angriffe von allen Seiten, gerne auch vom beleidigten Establishment, reagieren.

Als Nachfolger von Präsident Werner Gegenbauer hatte er die Spionage-Affäre samt Trennung von Investor Lars Windhorst zu moderieren. Dann musste er den offenbar alternativlosen Einstieg des neuen Investors 777 Partners aus Miami nicht nur den skeptischen Fans aus der Kurve erklären, sondern auch vielen anderen. Nach der Trennung von Geschäftsführer Fredi Bobic, die Hertha noch immer arbeitsrechtlich beschäftigt, entstand eine Menge neuer Zündstoff.

Sportlich trug Bernstein die Entscheidung voran, Benjamin Weber zum neuen Sportdirektor zu berufen, Trainer Sando Schwarz zu entlassen und Pal Dardai wieder in Verantwortung zu nehmen. Dazu musste er zusammen mit Geschäftsführer Tom Herrich ein knallhartes Sanierungskonzept durchziehen – auf vielerlei Ebenen gehörte Personalabbau bei Hertha BSC dazu.

Nach dem Abstieg in die Zweite Liga galt der nächste Kampf dem Erhalt der Lizenz. Dafür, dass er zuließ, einen Sportwettenanbieter als Brustsponsor zuzulassen, wurde Bernstein erneut von vielen Seiten, auch von den Fans hart kritisiert. Schließlich hatte er selbst in seinem Wahlprogramm das Engagement eines Sportwettenanbieters als Finanzgeber ausgeschlossen. „Die Enttäuschung der Leute ist ja eher darauf zu münzen, dass unser richtiger Weg an dieser Stelle zum Wohle von Hertha BSC verlassen werden musste. Wir haben immer gesagt, es ist ein Weg, eine Vision. Mein Wahlprogramm ist meine Wunschwelt, in der man einen Fußballverein wirken lässt. Bloß weil man mal links und rechts abbiegt, ist es nicht falsch, diesen Weg weiter zu forcieren“, sagte er mir in einem Interview.

Ebenso umstritten war die Haltung von Präsident Bernstein zu Torhüter Marius Gersbeck, den er nach der Prügel-Affäre im Trainingslager nicht fallen ließ. Stattdessen gab Hertha ihm die Chance zur Entschuldigung, zur Rehabilitierung. Fehler, die man aufrichtig bereue, fand Bernstein, gehören zum Leben.

Die laufende Zweitliga-Saison, die so enttäuschend begonnen hatte, entwickelte sich für Hertha BSC prima. Die Aussichten für 2024 sind gut für den Verein, der in der Abstiegssaison einen Zuschauerrekord verbuchte. Dazu kam nun der Dauerkartenrekord. „66.000 Zuschauer gegen St. Pauli. Alle Auswärtsblöcke ausverkauft. Es gibt eine größere Nachfrage an Auswärtstickets als Plätze, weil so viele Menschen der Alten Dame hinterherfahren wollen. All diese fanrelevanten Dinge sind wieder auf Kurs“, sagte Bernstein in einem Interview, das er mir im Krankenhaus gab, nachdem er sich bei einer Blödelei mit einem Mitarbeiter auf der Hertha-Geschäftsstelle drei Wirbelquerfortsätze gebrochen hatte.

500 Tage Kay Bernstein: Bilanz der bisherigen Amtszeit des Hertha-Präsidenten

15.11.2023

Das spannendste Fußballprojekt der Welt: Hertha BSC und Präsident Kay Bernstein

27.06.2022

Die frische Verletzung tat ihm weh. Manchmal musste er die Schmerzen wegatmen. Aber das Interview wollte er nicht abbrechen. Er gab es kurz vor der Mitgliederversammlung im Oktober 2023. Ein kleines bisschen, um für sich zu werben, und ein großes bisschen, um die Dinge für Hertha transparent zu machen, seinen Herzensverein, den er voranbringen, dessen Fans er zufrieden machen wollte. Er fragte dabei nie: Was ist das Beste für Bernstein? Er fragte immer: Was ist das Beste für Hertha BSC?

Er sah an diesem Nachmittag im Oktober noch viel Arbeit vor sich. Er haderte auch ein wenig mit seinen Kritikern, den Querschießern, den Neidern, auf die er im Zweifel auch mal persönlich zuging, um mit ihnen ins Gespräch zu kommen: „Natürlich mache ich nicht alles richtig – wem gelingt das schon? Leider wird zu oft vergessen, dass da ein junger Mann ist, ein Familienvater, der ganz viel aufgibt, ganz viel aufopfert, zurücksteckt, ganz viel macht für seinen Verein. Dabei ist einiges nicht und vieles doch sehr gut gelungen – nur fließt das zu oft nicht in die Bewertung mit ein. Ich frage mich von Zeit zu Zeit: Liegt das an meiner polarisierenden Vergangenheit, dass dieser Verein mit mir da vorne gar kein Recht auf Ruhe hat, weil dieses Ultra-Ding, diese Kurven-Vergangenheit immer wieder herausgeholt werden? Und warum bewerten die Leute das so einseitig? Weil es so polarisiert? Weil es so einfacher ist? Weil ich ihr Spiel nicht mitspiele?“

Am 6. Dezember 2023 bescherten ihm die Fußballer von Hertha BSC einen wunderschönen, furchtbar aufregenden Mittwochabend im Berliner Olympiastadion. Es war ein Flutlichtspiel im Achtelfinale des DFB-Pokals. Hertha besiegte den Hamburger SV im Elfmeterschießen. Fußball im blau-weißen Berlin war so, wie Fußball im blau-weißen Berlin sein sollte: mitreißend, begeisternd, emotionsgeladen, erfolgreich. „Ja, da fällt eine Last ab“, schrieb mir Kay Bernstein noch spät in der Nacht. Und er frage: „Wie soll man da schlafen?“ Leider stellt er so eine Frage nie mehr.

QOSHE - Hertha-Präsident Kay Bernstein: Sein blau-weißes Herz schlägt nicht mehr - Karin Bühler
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Hertha-Präsident Kay Bernstein: Sein blau-weißes Herz schlägt nicht mehr

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16.01.2024

Der 26. Juni 2022 war der Tag, an dem Kay Bernstein Präsident von Hertha BSC wurde. Es war ein sonniger Sommersonntag. Als der Wahlleiter im Berliner City Cube bei der außerordentlichen Mitgliederversammlung verkündete, Bernstein sei mit einfacher Mehrheit gewählt, herrschte von einer Sekunde auf die andere Stadionatmosphäre in dem heruntergekühlten Saal: Hertha-Anhänger in den ersten Reihen sprangen auf, reckten beide Arme nach oben wie sonst beim Jubel über ein Tor. Ihre Geste animierte Menschen in den Sitzreihen weiter hinten dazu, aufzuspringen. „Ha, ho, he, Hertha BSC“, riefen sie. „Ha, ho, he.“ Alle im gleichen Rhythmus. Alle gemeinsam. Wie in der Ostkurve. Dort, wo Kay Bernstein als Jugendlicher und junger Erwachsener stand. Er war einer, der viele animierte.

Kay aus der Kurve, das Wendekind aus dem Osten, das längst zu einem erfolgreichen Agenturchef in Neukölln geworden war und bei Hertha auf der VIP-Tribüne saß, hatte sich durchgesetzt gegen West-Berliner Seilschaften, gegen den Reinickendorfer Unternehmer und früheren CDU-Politiker Frank Steffel, gegen das Establishment. Bernstein holte damals im City Cube tief Luft. Er sagte zu den Hertha-Mitgliedern: „Vielen Dank für euer Vertrauen. Vielen Dank für eure entgegengebrachte Verantwortung. Unsere alte Dame liegt auf der Intensivstation. Wir können sie von innen heilen. Das geht nur zusammen. Jeder von euch kann mithelfen, damit wir wieder unsere blau-weiße Seele zurückgewinnen. Danke. Und: ha, ho, he.“

•heute

14.01.2024

12.01.2024

gestern

14.01.2024

Am Tag nach der Wahl schrieb ich in der Berliner Zeitung einen Text mit der Überschrift: „Das spannendste Fußballprojekt der Welt: Hertha BSC und Präsident Kay Bernstein“. Am Abend schickte Bernstein mir eine Nachricht, in der stand, er habe beim Lesen des Textes Tränen in den Augen gehabt: „Ich spüre die Energie der Hoffnung in den Menschen da draußen. Das wird uns antreiben und uns besser machen. Schreiben wir eine Geschichte ...“

Die Geschichte von Hertha-Präsident Kay Bernstein ist nur knapp eineinhalb Jahre später auf tragische Weise plötzlich zu Ende gegangen. Um 12.26 Uhr verschickte der Berliner Fußballklub aus dem Westend eine Pressemitteilung, in der stand: „Am heutigen Dienstag hat Hertha BSC die furchtbare Nachricht erhalten, dass Präsident Kay Bernstein im Alter von 43 Jahren unerwartet........

© Berliner Zeitung


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