Es ist ein steingewordener Männertraum direkt am Ufer des Oslofjords. Als hätte ein riesenhafter Wikinger drei Backsteine in eine Spielzeugstadt gerammt, zwei hochkant, einen quer, erhebt sich das Osloer Rathaus 66 Meter hoch über die umliegenden Gebäude. 66 Meter, das entspricht etwa der Höhe der größten Kreuzfahrtschiffe, und genauso mutet es mit seinen beiden massiven Türmen aus den kleinen Seitenstraßen an: mächtig aufragend, brutal kantig. Es steht dort erst seit knapp 100 Jahren.

Vorher gab es in Oslo kein echtes Rathaus; die Stadtverwaltung residierte mal da, mal dort. Anfang des 20. Jahrhunderts löste sich Norwegen aus der Union mit Schweden – und diese neugewonnene Selbständigkeit sollte umgehend durch ein entsprechendes Bauwerk gefeiert werden. Der Entwurf vereint Nationalromantik, Funktionalismus und den pathetischen Klassizismus der 1930er-Jahre. Für den Bau wurde das ärmliche Hafenviertel Pipervika geschleift, und auch der alte Vergnügungspark der Stadt – Tivoli – musste schließen, da die Stadt das Grundstück zu Geld machen musste. Das Osloer Rathaus ist ein Werk mit großen nationalen Ambitionen; sein Thema ist „das Volk“, sämtliche Materialien sind norwegischer Herkunft.

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Die Außenfronten des Monumentalbaus sind reich mit Skulpturen und Reliefs geschmückt; sie künden von Nationalstolz, starken Männern und Frauen, so wie Männer sie sich damals wünschten oder vorstellten. Auf der Freifläche zur Hafenseite bilden sechs nackte Frauen und zwei nackte Kinder den Figurenschmuck. Vor dem Gebäude sechs Skulpturen, die die Handwerker darstellen, welche das Gebäude errichteten: natürlich alles Männer, zünftig bekleidet. Der Stadtheilige Sankt Hallvard thront an der Hafenfront des Hauses: Er wird mit drei Pfeilen und einem Mühlstein dargestellt, denn er starb durch einen Pfeil und wurde mit einem Mühlstein am Hals im Fjord versenkt. Zu seinen Füßen: eine nackte Sklavin.

Die Friese zeigen norwegische Bürger bei typischen Tätigkeiten: Männer planend, schaffend und schwimmend, Frauen gärtnernd und Kinder versorgend. An der Westwand Anne Grimdalens Skulptur von Harald Hardråde zu Pferd. Sie: die einzige Künstlerin, die zur Außengestaltung beitragen durfte. Ihr Werk: ein „echter Kerl“. Harald Sigurdsson war im 11. Jahrhundert König von Norwegen, beanspruchte erfolglos sowohl den dänischen als auch den englischen Thron. Bevor er König wurde, war Harald als Söldner Militärbefehlshaber in der Kiewer Rus und Chef der Warägergarde im Byzantinischen Reich. Man nannte ihn den „Donnerkeil des Nordens“.

An der Ostseite eine weitere interessante Szene: Im früheren Slumviertel Vika, wo später das Osloer Rathaus gebaut wurde, war Prostitution weit verbreitet. Daher hat der Bildhauer Alfred Seland hier eine Hure zwischen ihrem Zuhälter und einem Kunden stehend abgebildet. Etwas Ähnliches dürfte es in keinem anderen öffentlichen Gebäude auf der Welt geben. An der Nordfront, hoch oben zwischen den beiden riesigen Ziegeltürmen, in denen die Verwaltung arbeitet, das goldene Oslopike („Oslo-Mädchen“), natürlich ebenfalls nackt. Die Macht- und Männerfantasien setzen sich im Inneren des Gebäudes fort: nackte, laszive sowie brave, adrette Damen allenthalben.

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Als das Rathaus 1950 fertiggestellt wurde, war der Stil des Gebäudes nicht mehr beliebt. Stahl und Glas waren modern, Ziegel längst out. Seitdem wurden in Oslo keine weiteren Gebäude in diesem Stil mehr gebaut. Man hat den Eindruck, dass das Gebäude nicht nur architektonisch ein Relikt der Vergangenheit darstellt, sondern auch gesellschaftlich. Ein letztes Aufbäumen des Patriarchats, sozusagen. Denn eigentlich war Norwegen schon weiter: Als viertes Land der Welt führte man hier schon 1913 das allgemeine Frauenwahlrecht ein.

Als hätten sich die Norweger nach der Einweihung des Rathauses angeschaut und gesagt „Nun ist es aber mal gut!“, hat die Gleichstellung danach erst recht Fahrt aufgenommen: Norwegen ist heute eines der Länder mit der höchsten Geschlechtergerechtigkeit. Im Global Gender Gap Report 2023 liegt es auf Platz zwei, die Gleichstellungslücke ist dort zu 87,9 Prozent geschlossen. (Deutschland folgt mit 81,5 Prozent auf Platz sechs.) Norwegen hatte bis vor kurzem eine Premierministerin und mehr Frauen in Ministerposten als in jedem anderen Land. Zugleich wird ausdrücklich auch Wert darauf gelegt, Männer in traditionell frauendominierten Berufen, beispielsweise als Erzieher, einzustellen. Norwegen gehört zu den Staaten mit den höchsten Ausgaben für frühkindliche Bildung und Betreuung – daher nimmt die Erwerbsbeteiligung von Müttern stetig zu. Der Index der menschlichen Entwicklung (HDI) der Vereinten Nationen stuft Norwegen seit vielen Jahren als das weltweit am höchsten entwickelte Land ein. Darüber hinaus ist es laut dem Demokratieindex des Economist der demokratischste Staat der Welt.

Kämpferisch sind die Norweger immer noch – und zwar inklusive Gleichberechtigung. Norwegen ist der einzige Nato-Staat mit einer Wehrpflicht für Frauen. Trotz der Wehrhaftigkeit des Landes steht auch gerade das martialische rote Rathaus von Oslo symbolisch für den Frieden: Alljährlich am 10. Dezember wird hier, dem letzten Willen des Schweden Alfred Nobel folgend, der Friedensnobelpreis vergeben.

QOSHE - Klischees aus Stein: Das rote Rathaus von Oslo - Irene Hallof
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Klischees aus Stein: Das rote Rathaus von Oslo

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14.01.2024

Es ist ein steingewordener Männertraum direkt am Ufer des Oslofjords. Als hätte ein riesenhafter Wikinger drei Backsteine in eine Spielzeugstadt gerammt, zwei hochkant, einen quer, erhebt sich das Osloer Rathaus 66 Meter hoch über die umliegenden Gebäude. 66 Meter, das entspricht etwa der Höhe der größten Kreuzfahrtschiffe, und genauso mutet es mit seinen beiden massiven Türmen aus den kleinen Seitenstraßen an: mächtig aufragend, brutal kantig. Es steht dort erst seit knapp 100 Jahren.

Vorher gab es in Oslo kein echtes Rathaus; die Stadtverwaltung residierte mal da, mal dort. Anfang des 20. Jahrhunderts löste sich Norwegen aus der Union mit Schweden – und diese neugewonnene Selbständigkeit sollte umgehend durch ein entsprechendes Bauwerk gefeiert werden. Der Entwurf vereint Nationalromantik, Funktionalismus und den pathetischen Klassizismus der 1930er-Jahre. Für den Bau wurde das ärmliche Hafenviertel Pipervika geschleift, und auch der alte Vergnügungspark der Stadt – Tivoli – musste schließen, da die Stadt das Grundstück zu Geld machen musste. Das Osloer Rathaus ist ein Werk mit großen nationalen Ambitionen; sein Thema ist „das Volk“, sämtliche Materialien sind norwegischer Herkunft.

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© Berliner Zeitung


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