Tag der deutschen Einheit: Was nützt es, alles sagen zu können, wenn man nicht gehört wird?
Mein 34. Jahr der deutschen Einheit beginnt mit einem Wutausbruch. Ich bin eigentlich selten wütend, wenn ich schreibe. Die Wut verflüchtigt sich, sobald ich die Tastatur berühre. Aber diesmal ist es anders. Mich nervt, wie über den Osten gesprochen und geschrieben wird. „Dem westdeutschen Publikum wird erklärt, was mit den Ostdeutschen nicht stimmt“, steht in meinem Essay, der zum 3. Oktober 2023 erscheint. „Warum sie zwar die gleiche Sprache sprechen, aber seltsame Dinge sagen.“ Der Ostdeutsche als gefährliches Wesen. „Jetzt spricht er nicht nur Russisch, jetzt ist er auch noch wütend.“
Eine Woche später werde ich selbst das seltsame Wesen aus dem Osten. Jörg Thadeusz hat mich zu einem Interview ins ARD-Hauptstadtstudio eingeladen. Es soll um mein Buch über meine tote Freundin Simone gehen. In der Maske erfahre ich, dass auch mein Essay Thema sein wird.
Der Moderator erklärt mir, das tollste Erlebnis in seinem Leben sei der Sturz der Diktatur 1989 gewesen. Warum die Deutschen so missmutig seien?
Ich sage, dass wir in einer anderen Welt gelebt haben. Dass wir anders sind. Dass DDR-Frauen ihr Leben lang gearbeitet haben. Ich erzähle ihm von einer Quizshow, die ich neulich im Fernsehen sah. Eine Frage lautete, bis wann Frauenfußball in Deutschland verboten war. Bis 1970, war die richtige Antwort. Von den DDR-Frauen, die schon seit den 50ern Fußball spielen durften, war keine Rede. Als hätte es sie nie gegeben.
Thadeusz sieht mich irritiert an. Quizshow? Frauenfußball? Er will auf etwas anderes hinaus, die Wahlumfragen, die Rechten. Brandenburg habe ein hohes Wirtschaftswachstum und eine viel niedrigere Zuwandererquote „als das gebeutelte Bremen“. Welche Entschuldigung ich dafür finde, dass 32 Prozent Brandenburger die AfD wählen würden?
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gestern
„Keine“, sage ich und erinnere ihn an die Umbruchzeit, als die ostdeutsche Wirtschaft von Westdeutschen übernommen wurde. An die Millionen Arbeitslosen und Ostdeutschen, die in den Westen gegangen sind. Das wirke bis heute nach. Es geht hin und her. Ein Gespräch, wie ich es seit 34 Jahren führe, in dem der Vorwurf mitschwingt, die Ostdeutschen seien undankbar. Nur, dass ich auf einmal auch die Brandenburger AfD-Wähler entschuldigen soll.
Nach der Sendung kommen von allen Seiten Leute ins Studio. Ein Techniker sagt, ich hätte recht und schwärmt von seiner Kindheit in der DDR. Ich habe das Gefühl, nicht verstanden zu werden. Von niemandem. Es ist alles viel komplizierter.
Ende Oktober habe ich drei Lesungen im Westen. Das ist etwas Besonderes, weil ostdeutsche Autoren selten in den Westen eingeladen werden. Und es ist anders. Die Lesungsbesucher sind unbefangener, stellen schneller Fragen, diskutieren gern. Besucher im Osten sind zurückhaltender, nachdenklicher. Es dauert oft eine Weile, bis sich jemand traut, die erste Frage zu stellen. Dann aber würde man am liebsten die ganze Nacht durchreden.
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Auf der Frankfurter Buchmesse liest Angelika Klüssendorf aus ihrem Roman „Risse“ vor, in dem es um eine harte Kindheit in der DDR geht. Sie wird gefragt, ob es bei den DDR-Kindern nicht auch endlich eine 68er-Bewegung geben sollte wie im Westen, um all das aufzuarbeiten. Klüssendorf antwortet: „Nein, wir haben doch Uwe Johnson. Der hat doch schon alles geschrieben.“ Nebenan drängen sich die Leute vor der Bühne, auf der Sophie Passmann liest. Als ich vorbeilaufe, sagt sie gerade: „Finger lackieren ist auch nichts anderes als Botox.“ Bei einer Lesung mit Adam Soboczynski schnappe ich den Satz auf: „Für Polen waren die Neunzigerjahre einfacher als für Ostdeutsche.“ Ich bleibe stehen. „Sie hatten die Möglichkeit gehabt, ihre Wohnungen selbst zu kaufen“, sagt Soboczynski.
Im November mache ich mit meinem Mann einen Kurzurlaub im Club Med in Marrakesch. Ich mag diese Urlaube, weil man sich um nichts kümmern muss und in verschiedenen Welten gleichzeitig leben kann. Auf dem Clubgelände zwischen französischen Familien, auf dem Markt in Marrakesch zwischen arabischen Händlern. Keine Deutschen, keine Ost-West-Diskussionen. Im Yves-Saint-Laurent-Museum kaufe ich mir ein Poster, auf dem „Love 1989“ steht, und hänge es zu Hause in mein Zimmer.
Zurück in Berlin geht es weiter mit den Diskussionen. Krieg in der Ukraine, Putin, Waffenlieferungen, Corona-Maßnahmen-Kritiker, AfD. Ein Bekannter berichtet, eine Frau habe zu ihm gesagt, Annalena Baerbock müsste mal „Im Westen nichts Neues“ sehen. „Dann wüsste sie, was Krieg ist.“ Findet er schlimm, den Satz. Genau wie die „russlandfreundlichen“ Bemerkungen........
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