Aus Angst, die AfD könnte das Verfassungsgericht kapern, soll dessen Organisation neu geregelt werden. Diesen Eifer wünschte man sich auch bei der Reform des Wahlrechts.

Die letzte Instanz ist eine mächtige Instanz. Urteile des Bundesverfassungsgerichtes können eine Koalition an den Rand des Abgrundes führen wie das Urteil zur Haushaltspolitik im November. Sie können Betroffenen bares Geld bringen wie eine Entscheidung aus dem Jahr 2010, nach der der Bund die Leistungen für die Bezieher von Hartz IV anheben musste. Und sie können im günstigsten Fall das Leben eines Menschen zum Guten wenden wie 1977 das Urteil, das Strafgefangene einen Anspruch auf Resozialisierung garantierte.

Im Grenzbereich zwischen Politik und Recht ist die Unabhängigkeit seiner 16 Richter das höchste Gut des Gerichtes. Bereits der Eindruck der politischen Einflussnahme ist gefährlich – und wurde zuletzt durch Berichte über diskrete Abendessen mit Richtern und Ministern ebenso genährt wie durch den Wechsel des Merkel-Vertrauten Stephan Harbarth aus dem Bundestag nach Karlsruhe, wo er rasch zum Präsidenten des Gerichtes aufstieg. Allerdings hat erst die Aussicht, dass angesichts der sich verändernden Parteienlandschaft irgendwann auch Juristen auf dem Ticket der AfD Verfassungsrichter werden können, Bewegung in die Debatte über die Unabhängigkeit des Gerichtes gebracht. Um diese zu stärken, sollen Änderungen am Gesetz über das Bundesverfassungsgericht nach dem Willen der Ampelparteien und der Union künftig nur noch mit einer Zwei-Drittel-Mehrheit in Bundestag und Bundesrat möglich sein. Bisher genügt dafür die einfache Mehrheit.

Die Gefahr, dass die AfD mehr als die Hälfte der Bundestagsabgeordneten stellt und das gegenwärtige Rechtssystem über Umbesetzungen in Karlsruhe aushebelt, ist zwar aus heutiger Sicht eher theoretischer Natur. In der Sache aber haben die Befürworter der Zwei-Drittel-Lösung recht: Elementare Regeln der staatlichen Ordnung wie die Besetzung und die Organisation des höchsten Gerichts sollten nur mit einer breiten Mehrheit geändert werden können. Das allerdings müsste dann auch für das Wahlrecht gelten, das die Ampelkoalition gerade so brutal geändert hat, dass es die CSU im ungünstigsten Fall alle Mandate im Bundestag kosten kann. Dafür genügte SPD, Grünen und FDP die einfache Mehrheit der eigenen Stimmen im Bundestag. Mit dem Argument, dass der gegenwärtige Bundestag zu groß sei, haben sie aus dem Wahlrecht eine Lex CSU gemacht. Kein Wunder, dass die Union deshalb in Karlsruhe dagegen klagt.

Bisher ist Deutschland mit seinem Verfassungsgericht gut gefahren – sei es als Reparaturbetrieb politischer Entscheidungen wie in der Coronakrise, sei es als Verteidiger liberaler Werte wie beim Datenschutz. Seine Zusammensetzung aber ist nicht über jeden Zweifel erhaben. Vor Harbarth wechselten schon der baden-württembergische Innenminister Roman Herzog und der saarländische Ministerpräsident Peter Müller direkt aus der Politik an das Gericht. Warum also keine Karenzzeit vorgeben, wie es bei Wechseln in die Wirtschaft heute Usus ist? Schon der Anschein einer Interessenkollision schadet dem Gericht bereits.

Gesetzlich nicht zu regeln sind dagegen die subtilen Formen der Einflussnahme. Und das gilt nicht nur für gemeinsame Abendessen. Wenn Kanzleramtschef Wolfgang Schmidt sich etwa beschwert, Karlsruhe hätte der Koalition doch vor seinem Haushaltsurteil einen entsprechenden Wink geben müssen, gefährdet das die Unabhängigkeit des Gerichtes unmittelbarer als die eher abstrakte Aussicht auf einen möglichen AfD-Richter. Ein gelernter Jurist wie Schmidt sollte das eigentlich wissen.

Sie haben nicht die Berechtigung zu kommentieren. Bitte beachten Sie, dass Sie als Einzelperson angemeldet sein müssen, um kommentieren zu können. Bei Fragen wenden Sie sich bitte an moderator@augsburger-allgemeine.de.

Um kommentieren zu können, gehen Sie bitte auf "Mein Konto" und ergänzen Sie in Ihren persönlichen Daten Vor- und Nachname.

Bitte melden Sie sich an, um mit zu diskutieren.

QOSHE - Bundesverfassungsgericht im Grenzbereich von Politik und Recht - Rudi Wais
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Bundesverfassungsgericht im Grenzbereich von Politik und Recht

14 0
07.02.2024

Aus Angst, die AfD könnte das Verfassungsgericht kapern, soll dessen Organisation neu geregelt werden. Diesen Eifer wünschte man sich auch bei der Reform des Wahlrechts.

Die letzte Instanz ist eine mächtige Instanz. Urteile des Bundesverfassungsgerichtes können eine Koalition an den Rand des Abgrundes führen wie das Urteil zur Haushaltspolitik im November. Sie können Betroffenen bares Geld bringen wie eine Entscheidung aus dem Jahr 2010, nach der der Bund die Leistungen für die Bezieher von Hartz IV anheben musste. Und sie können im günstigsten Fall das Leben eines Menschen zum Guten wenden wie 1977 das Urteil, das Strafgefangene einen Anspruch auf Resozialisierung garantierte.

Im Grenzbereich zwischen Politik und Recht ist die Unabhängigkeit seiner 16 Richter das höchste Gut des Gerichtes. Bereits der Eindruck der politischen Einflussnahme ist gefährlich – und wurde zuletzt durch Berichte über diskrete Abendessen mit Richtern und Ministern ebenso genährt wie durch den Wechsel des........

© Augsburger Allgemeine


Get it on Google Play