Stand: 14.05.2024, 09:06 Uhr

Von: Petra Kohse

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Die aggressive Warnung einer obachlosen Person sollte nicht mit Abwehr oder Ignoranz beantwortet werden. Die Kolumne.

Berlin - Auf dem Bürgersteig vor dem Eingang zum Berliner S-Bahnhof Yorckstraße, auf dem schmalen kopfsteingepflasterten Stück zwischen Fußgängerbereich und Fahrradweg, lebt ein Mensch. Er liegt da, sitzt da, hat Sachen dort – kann man sagen er „wohnt“? Nein, er oder sie wohnt nicht. Die Bahnbrücke in einigen Metern Höhe zählt nicht als Obdach.

Regelmäßig komme ich mit dem Fahrrad vorbei, manchmal auch zu Fuß, und egal bei welchem Wetter, ist das Lager vorhanden. Von der Fahrbahn durch den Radweg und ein Geländer getrennt, von den Radelnden sowie den Fahrgästen, die in Trauben aus dem Bahnhof strömen oder hineinwühlen, durch nichts. Hunde beschnüffeln den Schlafsack, die Tüten, den Wollschal, unter dem sich der Mensch wölbt, mehrere Schichten über das Gesicht gezogen, das ich noch nie gesehen habe. Zu Stoßzeiten werden eilige Füße an den Körper stoßen, es kann gar nicht anders sein an diesem Engpass.

Wieso ist die Niederlassung genau hier erfolgt und nicht an einer ruhigeren Ecke? Dass besonders viele Menschen am Nadelöhr der Bahnlinie S 1 den weißen Becher auf dem Boden beachten, kann ich mir nicht vorstellen. Sind die Menschen, die am benachbarten Imbiss Schlange stehen, so großzügig, dass sich diese womöglich unwirtlichste Stelle in der Hauptstadt des viertvermögendsten Landes der Welt zum Leben lohnt? Es ist laut, schmutzig und gefährlich.

Wobei das Lager nicht immer belegt ist. Manchmal sind die Decken leer, dann beschweren Pflastersteine die Habe, und ein handgeschriebener Zettel warnt: „Für Vollidioten. Klauen STRENG VERBOTEN. Wer klaut, stirbt.“ Ein Strichmännchen am Galgen ist noch dazugesellt! Oha! Das ist ein aus anderen Kontexten bekannter Sound. Nicht das „leise Schluchzen der Armut“, wie es bei Heine heißt. Sondern der Hauswartston der geistig Unbehausten, die Rhetorik der Paranoiker, der Morgengruß derjenigen, die im immerwährenden Selbstgespräch über die Verfehlungen aller anderen sind.

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Es gibt derer viele, immer mehr, auf allen, auch deutlich besseren Positionen des Lebens. In einkommensstärkeren Rängen nutzen sie andere Medien, aber der Generalverdacht gegen die Welt ist ein ähnlicher, man flieht sie, wo man kann, denn Widerspruch ist zwecklos. Hier an der Yorckstraße ist die Lage existenzieller, die Bedürftigkeit konkret, der Ton womöglich berechtigt – und doch auch ein Lumpen gewordenes ewig letztes Wort: Vollidioten überall!

Ich stelle mir vor, wie vom Streetworker bis zur Heilsarmee schon sämtliche helfende Hände Berlins gescheitert sind an diesem Lager. Wie der schmale Streifen Kopfsteinpflaster erst zum Aktionsfeld, dann zur Grundsatzfrage, schließlich zum blinden Fleck geworden ist, weil öffentliche Gefährdung nicht nachzuweisen war. Jetzt ist es eine Trutzburg des Vorwurfs, toxisches Nirgendwo, perpetuum mobile des Elends.

Und doch sollte das Lager nicht beweisen dürfen, was es womöglich beweisen will. Teilhabe und Versorgung sollten nicht von der Verfasstheit eines Menschen abhängen, sein Wert nicht von seinen Werten. Auf Seiten derjenigen, die es warm und gemütlich haben, spielt das ja auch keine Rolle.

Wie den Kreis durchbrechen, wie in ein anderes System kommen? Vielleicht könnte man das Lager mit Geld bedecken, Münzen nicht tropfen lassen, sondern schütten? Scheine in Paketen danebenlegen? Es gibt genug davon, her damit für diesen Menschen! Warum die Gesellschaft das tun sollte? Weil sie es kann.

Petra Kohse ist Kulturredakteurin, Buchautorin und Heilpraktikerin für Psychotherapie.

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Obdachose in Berlin: „Wer klaut, stirbt“

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14.05.2024

Stand: 14.05.2024, 09:06 Uhr

Von: Petra Kohse

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Die aggressive Warnung einer obachlosen Person sollte nicht mit Abwehr oder Ignoranz beantwortet werden. Die Kolumne.

Berlin - Auf dem Bürgersteig vor dem Eingang zum Berliner S-Bahnhof Yorckstraße, auf dem schmalen kopfsteingepflasterten Stück zwischen Fußgängerbereich und Fahrradweg, lebt ein Mensch. Er liegt da, sitzt da, hat Sachen dort – kann man sagen er „wohnt“? Nein, er oder sie wohnt nicht. Die Bahnbrücke in einigen Metern Höhe zählt nicht als Obdach.

Regelmäßig komme ich mit dem Fahrrad vorbei, manchmal auch zu Fuß, und egal bei welchem Wetter, ist das Lager vorhanden. Von der Fahrbahn durch den Radweg und ein Geländer getrennt, von den Radelnden sowie den Fahrgästen, die in Trauben aus dem Bahnhof strömen oder hineinwühlen, durch nichts. Hunde beschnüffeln den Schlafsack, die Tüten, den Wollschal,........

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