Nachts im Berliner Museum für moderne Kunst: „Ich habe Angst vor der AfD“
Es ist 20.25 Uhr als Julia Duchrow im Hamburger Bahnhof diesen sehr langen Satz vorliest: „Die modernen Flüchtlinge sind nicht verfolgt, weil sie dies oder jenes getan oder gedacht hätten, sondern aufgrund dessen, was sie unabänderlich von Geburt sind – hineingeboren in die falsche Rasse oder die falsche Klasse oder von der falschen Regierung zu den Fahnen geholt (wie im Falle der spanischen republikanischen Armee).“ Der Satz steht in Hannah Arendts Buch „Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft“, das im Jahr 1955 erstmals erschien und mit kleinen Zetteln versehen auf Duchrows Schoß liegt. Sie hat ein Mikrofon in der Hand, sitzt auf einem Schaukelstuhl, schaukelt aber nicht, und liest weiter: „Der moderne Flüchtling ist das, was ein Flüchtling seinem Wesen nach nie sein darf: Er ist unschuldig, selbst im Sinne der ihn verfolgenden Mächte.“
Der letzte Satz ist einer der bekanntesten Sätze aus Arendts Werk, dass sich mit verschiedenen Aspekten von Totalitarismus auseinandersetzt. Julia Duchrow ist Generalsekretärin von Amnesty International und es ist sicher kein Zufall, dass sie sich diese Passage aus Arendts Buch ausgesucht hat. Sie sitzt seit Punkt 20 Uhr auf einem Schaukelstuhl und liest über das Leben von Flüchtlingen. Sie wird so Teil einer Kunstaktion der kubanischen Künstlerin Tania Bruguera. Die Installation heißt „Where your Ideas become Civic Actions“ (Wo deine Ideen zu zivilem Handeln werden). Die Künstlerin hat 100 Künstler und Wissenschaftler eingeladen, aus diesem Werk vorzulesen und dazu Stellung zu beziehen, in einer großen Halle des Hamburger Bahnhofs, nicht weit vom Hauptbahnhof, 100 Stunden soll die Aktion dauern.
Begonnen hat das Ganze um 19 Uhr, als sich die 55 Jahre alte Künstlerin aus Kuba vor den Schaukelstuhl stellt, in dem sie gleich lesen wird. Sie begrüßt die rund 200 Gäste in der Halle und beginnt mit der Verlesung des deutschen Grundgesetzes: „Die Würde des Menschen ist unantastbar ...“ Unterstützt wird sie dabei von Tim Fellrath und Sam Bardaouil, den beiden Direktoren des Hamburger Bahnhofs, die ins Deutsche übersetzen. Anschließend........
© Berliner Zeitung
visit website