Als Friedrich Wolff am 30. Juli 1922 in Berlin-Neukölln geboren wurde, taumelte Deutschland in Wirren, die das ganze folgende Jahrhundert lang das Land, Europa, die ganze Welt erschüttern sollten. 1922 ermordeten Attentäter Außenminister Walther Rathenau und Hunderttausende gingen auf die Straße, um gegen konterrevolutionären Terror zu demonstrieren. Die Inflation nahm Fahrt auf, Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) scheiterte im zersplitterten Parteiensystem.

Bahn-, Elektrizitäts- und Metallarbeiter zerrütteten mit Streiks das Land. Der Faschist Benito Mussolini übernahm in Italien die Macht, in der Sowjetunion Stalin. Ein als Störer bekannter Ausländer namens Adolf Hitler wurde wegen Landfriedensbruchs zu drei Monaten Haft verurteilt und nach vier Wochen auf Bewährung freigelassen. Nicht ausgeschlossen, dass Friedrich Wolff in seinen letzten Monaten aktuelle Parallelen erkannte.

Jetzt ist der legendäre Rechtsanwalt, einer der bekanntesten der DDR, nach Angaben seines Verlegers Frank Schumann am Montag in seinem Haus in Wandlitz gestorben. Der Sohn eines jüdischen Arztes und einer protestantischen Mutter wurde in seinen 102 Lebensjahren zum Zeitzeugen rasanter Entwicklungen und welthistorischer Brüche: Er erlebte als Kind die offenen, aber chaotischen Zustände der Weimarer Republik, dann den Nazi-Terror, den Aufbau der DDR, die deutsche Teilung, den Kalten Krieg, den Beitritt der DDR zur BRD. Eine Jahrhundertfigur im wahrsten Sinn des Wortes.

Die ersten Schuljahre erlebte er in Kreuzberg; er soll ein begeisterter Karl-May-Leser gewesen sein. An Hitlers Machtantritt erinnerte er sich genau: „Am 1. April 1933 standen SA-Männer vor der Praxis meines Vaters. Sie forderten auf Schildern, nicht zum jüdischen Arzt zu gehen.“

•gestern

•gestern

•vor 2 Std.

Sein Vater hatte den Elfjährigen an jenem Morgen in die Praxis in der Schönleinstraße Ecke Kottbusser Damm mitgenommen: „Es war Anschauungsunterricht.“ Der Vater starb zwei Jahre später. Als Sohn einer „Arierin“ gelingt es Friedrich, Abitur zu machen und eine Kaufmannslehre. Den Krieg übersteht er als Arbeiter in einer Treuenbrietzener Metallwarenfabrik, in der Munitionsproduktion.

Sein Neubeginn gelingt im Osten Berlins. 1945 tritt er in die KPD ein, beginnt ein Medizinstudium, wechselt bald ins juristische Fach. Nach dem Studium an der Humboldt-Universität wird er 1949 Rechtsanwalt, arbeitet als Hilfsrichter und schon ein Jahr später als Beisitzer einer Großen Strafkammer am Landgericht Berlin. Er engagiert sich in der Berliner Richterschule und der Justizabteilung des Magistrats.

„Früher hieß es: Honecker muss weg. Heute heißt es: Merkel muss weg“

17.01.2021

Absurdität und Arroganz: Was Wolfgang Schäubles Wirken im Einigungsprozess den DDR-Bürgern brachte

01.01.2024

Überall galt es damals, NS-Juristen durch neue Leute zu ersetzen und diesen Rechtskenntnisse zu vermitteln. 1953 wurde Friedrich Wolff Vorsitzender des Berliner Rechtsanwaltskollegiums. Den Doktortitel erwarb er 1983 mit der Dissertation über die Stellung des Rechtsanwaltes. In einem Interview mit der Berliner Zeitung im Januar 2021 sagt er auf die Frage nach der besten Zeit in seinem Leben: „Die DDR. Wir bauten etwas Neues auf.“

Als Strafverteidiger in verschiedenen politischen Verfahren tauchte sein Name immer wieder in den Medien auf: Er vertrat Beteiligte an den Aufständen von 1953 und den Systemkritiker Walter Janka, einen Kommunisten, der 1956 konterrevolutionärer Umtriebe bezichtigt und zu Haft verurteilt wurde, die er unter anderem in Bautzen verbrachte. Dort hatte Janka schon in der NS-Zeit gesessen.

Auch einem Täter des NS-Massenmords im französischen Oradour stand Pflichtverteidiger Wolff bei – in der Überzeugung, ein Anwalt müsse seinen Mandanten „nach bestem Wissen und Gewissen und mit allen Mitteln, die ihm das Gesetz bietet“ vertreten, gleichgültig, ob er ihn für schuldig oder unschuldig halte.

Schwierigkeiten mit Rechts- und Unrechtsstaat

30.05.2021

Das überraschende Urteil, das Erich Honecker die Ausreise nach Chile erlaubte

26.07.2022

Als Pflichtverteidiger trat er auch in politisch brisanten Prozessen auf, die die DDR als Teil ihrer Auseinandersetzung mit der Bundesrepublik führte. Der spektakulärste wurde vor dem Obersten Gericht der DDR gegen den Adenauer-Berater und früheren Kommentator der Nürnberger Rassegesetze Hans Globke und den Bonner Nazi-Minister Theodor Oberländer geführt – in beiden Fällen in Abwesenheit der Angeklagten. „Unsere politischen Schauprozesse“, nannte Wolff die Prozesse später, veranstaltet für die Öffentlichkeit: „Wir fällten damit auch ein politisch-moralisches Urteil, was üblicherweise nicht Aufgabe der Justiz ist.“

Als Günter Guillaume, ein enger Mitarbeiter von Bundeskanzler Willy Brandt, 1974 als DDR-Kundschafter enttarnt und in der BRD strafrechtlich verfolgt wurde, verteidigte er diesen.

Mit der deutschen Einheit rollte schließlich eine neue Prozesswelle auf den gewieften Juristen zu: Erich Honecker kam wegen Hochverrats vor Gericht, Hans Modrow wegen Falschaussagen, Egon Krenz wegen der Schüsse an der Mauer. Der Vorwurf des Hochverrats gegen den langjährigen SED-Generalsekretär und Staatsratsvorsitzenden Honecker empörte ihn bis zum Schluss.

Im Interview mit der Berliner Zeitung erklärte Wolff, warum sich seine „hohe Meinung vom westdeutschen Recht“ wandelte, als er Honecker als Mandanten vertrat: „Ich habe gedacht: Was sie dem vorwerfen, das gibt’s ja gar nicht: Hochverrat!“ Zur Begründung führte er den alten juristischen Grundsatz an: „Die Tat muss zur Zeit der Tat am Ort der Tat strafbar gewesen sein, sonst kann man nicht verurteilt werden. Die Grenzer haben etwas gemacht, was in der DDR nicht strafbar war.“

Dieser Ärger kocht auch noch in dem 2020 entstandenen Gesprächsband, in dem Anwalt Wolff und Politiker Krenz ihre gelegentlich recht unterschiedlichen Meinungen austauschten. Das Buch trägt den Titel „Komm mir nicht mit Rechtsstaat“ – ja, hier werden Zweifel am Umgang dieses Rechtsstaats mit den DDR-Verantwortlichen vorgetragen. Dazu ein Satz Wolffs: „Ein Gericht darf weder nach Gefühlslage noch nach ideologischen Vorgaben noch aus politischem Zeitgeist handeln.“ War das nach 1990 immer garantiert? Er war nicht davon überzeugt.

Sex in der DDR: Selbstverständlich und im besten Sinne alltäglich

02.10.2020

Der Mann hatte bei aller Treue zum Arbeiter- und Bauernstaat immer seinen eigenen Kopf und eine klare Sprache. Deshalb war er in der DDR nicht nur bekannt, sondern auch populär – vor allem durch seine Fernsehsendung „Alles was Recht ist“. Da gab er von 1981 bis 1990 Rechtsstaatsgrundkurse zu allen möglichen Fragen. Zum Beispiel: „Wie regeln wir die Eigentumsfragen bei der Scheidung“, ein großes Alltagsthema, das er in dem 1987 erschienenen Büchlein „Liebe, Sex und Paragraphen“ umfassend behandelte.

Mit seiner Partei, der Linken, zu deren Ältestenrat er gehörte, haderte er seit 20 Jahren. In der Strategiedebatte von 2020 stellte er die Frage: „Aber sind wir noch eine sozialistische Partei?“ Und antwortete, ohne dass ihm widersprochen wurde: „Nach unserem Programm sind wir das, unserer Tagespolitik aber merkt man es jedoch nicht an.“ Nach Hans Modrow hat die Linke nun auch diesen Mahner verloren.

2013 hatte er seine Memoiren aufgeschrieben, in einem Buch mit dem Titel: „Ein Leben – Vier Mal Deutschland. Erinnerungen: Weimar, NS-Zeit, DDR, BRD“. Sein Resümee mag in manchen Ohren unerhört klingen, aber so hat es einer gesehen, der mehr erfahren musste als alle, die ihn beurteilen könnten: „Die DDR war mir das liebste der vier Deutschländer. Sie führte keinen Krieg, ihre Soldaten standen nicht vor Moskau oder in Stalingrad, sie wurde auch nicht am Hindukusch verteidigt. Juden oder Ausländer wurden in der DDR nicht diskriminiert, Arbeitslose gab es nicht. In ihr sah man keine Obdachlosen, gab es kein Hartz IV. Konzernherren … existierten nicht. Man lebte einfach als Gleicher unter Gleichen … Ich bin zufrieden mit meinem Leben und setze weiter auf den Sozialismus.“

QOSHE - Alles was Recht ist: Der Jahrhundertanwalt Friedrich Wolff ist tot - Maritta Adam-Tkalec
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Alles was Recht ist: Der Jahrhundertanwalt Friedrich Wolff ist tot

9 30
11.06.2024

Als Friedrich Wolff am 30. Juli 1922 in Berlin-Neukölln geboren wurde, taumelte Deutschland in Wirren, die das ganze folgende Jahrhundert lang das Land, Europa, die ganze Welt erschüttern sollten. 1922 ermordeten Attentäter Außenminister Walther Rathenau und Hunderttausende gingen auf die Straße, um gegen konterrevolutionären Terror zu demonstrieren. Die Inflation nahm Fahrt auf, Reichskanzler Joseph Wirth (Zentrum) scheiterte im zersplitterten Parteiensystem.

Bahn-, Elektrizitäts- und Metallarbeiter zerrütteten mit Streiks das Land. Der Faschist Benito Mussolini übernahm in Italien die Macht, in der Sowjetunion Stalin. Ein als Störer bekannter Ausländer namens Adolf Hitler wurde wegen Landfriedensbruchs zu drei Monaten Haft verurteilt und nach vier Wochen auf Bewährung freigelassen. Nicht ausgeschlossen, dass Friedrich Wolff in seinen letzten Monaten aktuelle Parallelen erkannte.

Jetzt ist der legendäre Rechtsanwalt, einer der bekanntesten der DDR, nach Angaben seines Verlegers Frank Schumann am Montag in seinem Haus in Wandlitz gestorben. Der Sohn eines jüdischen Arztes und einer protestantischen Mutter wurde in seinen 102 Lebensjahren zum Zeitzeugen rasanter Entwicklungen und welthistorischer Brüche: Er erlebte als Kind die offenen, aber chaotischen Zustände der Weimarer Republik, dann den Nazi-Terror, den Aufbau der DDR, die deutsche Teilung, den Kalten Krieg, den Beitritt der DDR zur BRD. Eine Jahrhundertfigur im wahrsten Sinn des Wortes.

Die ersten Schuljahre erlebte er in Kreuzberg; er soll ein begeisterter Karl-May-Leser gewesen sein. An Hitlers Machtantritt erinnerte er sich genau: „Am 1. April 1933 standen SA-Männer vor der Praxis meines Vaters. Sie forderten auf Schildern, nicht zum jüdischen Arzt zu gehen.“

•gestern

•gestern

•vor 2 Std.

Sein Vater hatte den Elfjährigen an jenem Morgen in die Praxis in der Schönleinstraße Ecke Kottbusser Damm mitgenommen: „Es war Anschauungsunterricht.“ Der Vater starb zwei Jahre später. Als Sohn einer........

© Berliner Zeitung


Get it on Google Play