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Krieg in Gaza: Der Imperativ eines neuen Konsenses für Menschlichkeit und Gerechtigkeit

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25.07.2024

In den vergangenen Tagen und Wochen haben zahlreiche internationale Institutionen Israels barbarisches Morden in Gaza aufs Schärfste verurteilt. Man sollte meinen, dass nach solch unmissverständlichen Verurteilungen von höchsten diplomatischen Gremien, Institutionen und Gerichten wie dem IGH, IStGH und der UN Deutschland einen deutlichen Paradigmenwechsel vollziehen würde. Stattdessen offenbart die Untätigkeit unserer Politik die fragwürdige Haltung der Bundesrepublik gegenüber Demokratie und Menschenrechten.

Als sich im März 2024 vierzig deutsche Chefärzte und Chirurgen bereit erklärten, 32 Kinder aus Gaza aufzunehmen und kostenlos zu behandeln, verweigerte das Bundesinnenministerium die Einreise, aus Angst davor, Terroristen oder Asylbewerber ins Land zu holen. Inzwischen ist ein Großteil dieser Kinder entweder tot oder nicht mehr auffindbar. Die Reaktion der Innenministerin auf der Bundespressekonferenz spricht Bände: Sie bezweifelte die Anzahl der verletzten Kinder und lehnte jegliche Verantwortung für die Situation ab.

Und was macht unsere Außenministerin? Mit Blick auf die ermordeten Kinder im Ukrainekrieg forderte sie im Februar 2023 vor dem UN-Menschenrechtsrat in Genf sehr deutlich: „Wir müssen ihre Namen aussprechen und ihre Rechte fördern. Und wir müssen die Täter beim Namen nennen.“ Während UN-Generalsekretär António Guterres bereits im November 2023 warnte, dass „Gaza zu einem Friedhof für Kinder wird“, warten wir nach über neun Monaten Krieg in Gaza immer noch darauf, dass Frau Baerbock die Namen der 14.500 getöteten, 21.000 vermissten und 700.000 vertriebenen Kinder in Gaza ausspricht und ihre Rechte verteidigt. Vor allem warten wir darauf, dass Frau Baerbock endlich die Täter beim Namen nennt.

Die Täter beim Namen nennen, kommt jedoch nicht infrage, auch nicht in Berlin, wo mit 45.000 Palästinensern die größte palästinensische Gemeinschaft Europas lebt. Man bemüht sich um Dialog und Verständigung, verkennt jedoch des Pudels Kern. Statt das Problem an der Wurzel zu packen und das Kind beim Namen zu nennen, setzt man auf Strategien, die von vornherein zum Scheitern verurteilt sind. Man möchte nicht über das Leid in Gaza sprechen; das ist zu emotional. Stattdessen möchte man gemeinsame Tänze, Fußballspiele und Dialog zwischen Juden und Muslimen organisieren.

gestern

gestern

•vor 1 Std.

Es ist ohnehin irreführend, den Krieg in Gaza auf Muslime zu reduzieren, denn auch Christen sind von der Brutalität der ultrarechten israelischen Regierung betroffen. Jeder, der die vergangene Weihnachtspredigt von Pastor Munther Isaac im besetzten Bethlehem gehört hat, weiß, wie stark auch Christen in Gaza leiden. Bei israelischen Angriffen wurden drei Kirchen in Gaza zerstört.

Die gut gemeinte Strategie der Begegnung und des Dialogs verkennt den eigentlichen Elefanten im Raum: das immense Leid, die Trauer und die Fassungslosigkeit über den Massenmord in Gaza. Echter Dialog ist der Beginn von Verstehen und Verständnis. Der Dialog Berlins verhindert jedoch Verstehen und Verständnis. Durch Tanzen und Spielen lösen wir die große Entfremdung in der Bevölkerung nicht, wir verdrängen sie nur.
Etliche Berliner haben Dutzende Angehörige in Gaza verloren. Die tiefe Trauer zu verdrängen, führt zu Frust und psychischer Belastung. Sigmund Freud sah Verdrängung als Abwehrmechanismus, bei dem unverarbeitete Emotionen unterschwellig brodeln und jederzeit ausbrechen können. Deshalb führte er das Konzept der freien Assoziation ein, um verdrängte Gedanken und Gefühle ins Bewusstsein zu bringen und sie offen anzusprechen.

Offene Ansprache und Tacheles reden ist genau das, was die Menschen in Berlin jetzt wollen. Nach über 38.000 toten und mehr als 89.000 verletzten Palästinensern möchten sie einen neuen Diskurs. Sie möchten einen Paradigmenwechsel mit einem neuen Konsens. Um diesen Konsens zu finden, müssen wir einen offenen und rationalen Diskurs führen, wie es Habermas in seiner Theorie des kommunikativen Handelns fordert.
Die ideale Sprechsituation nach Habermas ist jene, in der jeder gleichberechtigt am Diskurs teilnehmen kann und frei von Druck und Zwang seine wirklichen Überzeugungen offen ansprechen kann. Mittels vier Geltungsansprüchen – Verständlichkeit, Wahrheit, Wahrhaftigkeit und Richtigkeit – bemühen sich die Teilnehmer des Diskurses, einen Konsens zu finden.

Im Diskurs werden diese Ansprüche........

© Berliner Zeitung


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