Kreuz, Kippa, Kopftuch: Warum wir die Säkularität des Staates neu verhandeln müssen
Artikel vom 11.02.2024
Die Distanz zu Religionen gelten als wichtige Errungenschaft des modernen Verfassungsstaates. Doch diese Grundsätze stehen immer wieder zur Diskussion – wie beim Streit um das Abaya-Verbot in Frankreich
„Der Islam gehört zu Deutschland“, sagte vor Jahren ein Bundespräsident, dem danach – aus ganz anderen Gründen – nur eine kurze Amtszeit beschieden war. Hatte er recht? Das deutsche Religionsverfassungsrecht garantiert hierzulande allen moslemischen Bürgerinnen und Bürgern, ihren Glauben frei ausüben zu können. Dass es de facto vor allem die beiden großen christlichen Kirchen vielfach begünstigt und ihnen einen Sonderstatus einräumt, wird niemand bestreiten. Die meisten Menschen in Deutschland, Gläubige wie Ungläubige, finden das richtig. Moslemische Glaubensadvokaten monieren – ebenfalls erwartbar – die damit einhergehende Diskriminierung und Ausgrenzung. Dabei soll der Staat doch vor allem in Religionsbelangen eines sein: neutral. Aus religiösen Belangen sollte er sich heraushalten. Doch er tut es nicht.
In unserem Grundgesetz (Art. 140 GG) sind die Grundlagen für das Verhältnis von Kirche und Staat in Deutschland klar formuliert. Das Bundesverfassungsgericht hat diesen Artikel dahingehend ausgelegt, dass das Gesetz dem Staat als Heimstatt aller Bürgerinnen und Bürger ohne Ansehen der Person weltanschaulich-religiöse Neutralität auferlegt. Es untersagt die „Privilegierung bestimmter Bekenntnisse.“ Doch die Verfassungswirklichkeit sieht anders aus. Nicht zuletzt wegen unzähliger Privilegien und Subventionen an die Kirchen haben wir längst zwei Staatskirchen. Der Islam mag zwar zu Deutschland gehören, doch seine – religiöse! – Rolle in der gesellschaftlichen Alltagswirklichkeit ist allenfalls an einzelnen Orten unübersehbar, etwa in Städten wie Berlin, Köln oder Duisburg. Insgesamt leben, Stand 2021, nur 2,9 Mio. (3,5 % der Bevölkerung) konfessionsgebundene Muslime in Deutschland. Dennoch: der Islam wird selbstbewusster und sichtbarer. Nicht nur in Deutschland, er konfrontiert Europas Verfassungsstaaten mit neuen Konflikten.
Die Trennung von der Kirche, die Distanz zu Religionen und die Hinwendung zu Logos und Ratio gelten als die wichtigsten Errungenschaften des modernen Verfassungsstaates. Eine andere Frage ist, ob der Staat Religion in ihrer öffentlichen Präsenz fördern soll – und damit, indirekt, eine Mehrheitsreligion bevorzugt. Anders dar stellt sich die Situation für die nicht kirchlich gebundenen Menschen, immerhin jetzt schon etwa 50 % der Bevölkerung. Sie weisen auf die dauernden Verstöße staatlicher Neutralität hin. Dabei geht es nicht darum, die Kirchen aus dem gesellschaftlichen Leben zu verbannen. Ziel ist allein, die verfassungswidrige Verknüpfung mit dem Staat zu beseitigen, mit der die Kirchen sich Sondervorteile vor anderen Gruppen in der pluralistischen Konkurrenz um gesellschaftlichen und politischen Einfluss verschaffen.
Fest steht: eine integrationsbedingte Pluralisierung der religiösen Geografie hat die bewährte, traditionelle Arbeitsteilung zwischen Kirche und Staat hierzulande in Schieflage gebracht. Der Staat ist gefordert, sich religionspolitisch neu zu orientieren. Doch wie das Neutralitätsgebot des Staates angesichts wachsender kultureller, ethnischer und religiöser Vielfalt vorangetrieben, wie Grundsätze des säkularen Staates verteidigt werden können, darüber besteht wenig Einigkeit.
Kann Frankreich hier Vorbild sein? Dort existiert ein religionsverfassungsrechtliches Modell, dem das Prinzip „Laizität“, also die strenge Trennung zwischen Religion und Staat zugrunde liegt. Der Begriff laïcité wurde 1871 von dem Pädagogen und späteren Friedensnobelpreisträger Ferdinand Biusson geprägt, der sich vor allem für einen religionsfreien Schulunterricht einsetzte. Im Gegensatz zur französischen Ausprägung der Laizität, nach der primär der Staat vor dem als schädlich angesehenen Einfluss der katholischen Kirche geschützt werden sollte, wird andernorts die Trennung von Kirche und Staat unterschiedlich praktiziert. Viele westliche Staaten sind........
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