»Viele Juden sind heute an der Front«
Herr Zissels, in der Ukraine herrscht inzwischen seit mehr als zwei Jahren Krieg. Was hat sich Ihrer Einschätzung zufolge seither verändert?
Ende des Jahres 2022, kurz nach der Befreiung der Stadt Cherson, schrieb ich einen Essay, in dem ich unsere Aussichten generell recht skeptisch beurteilte. Für das wahrscheinlichste Szenario – und ich glaube, die Zeit hat meine Prognose bestätigt – hielt ich eine Stabilisierung der Frontlinie und damit eine Pattsituation. Persönlich empfinde ich deshalb keine Enttäuschung. So oder so haben die meisten größeren militärischen Konflikte der Gegenwart nicht mit einem alles entscheidenden Sieg für eine der beiden Parteien geendet.
Was bedeutet das konkret?
Es ist wichtig, die Natur dieser Konfrontation zu verstehen. Im Jahr 2014 hatte Russland erst versucht, durch eine Art »eiserne« Umklammerung die Kontrolle über die Ukraine zurückzugewinnen. Man entfesselte einen klassischen imperialistischen Krieg. Im Jahr 2022 aber hat dieser Konfikt die Dimensionen eines Kampfs der Kulturen angenommen. Aktuell unterstützen 55 Länder die Ukraine, während sich China, Nordkorea, Kuba, der Iran, aber auch Syrien, Weißrussland und Venezuela auf die Seite Russlands gestellt haben.
Wie macht sich das bemerkbar?
Die Ressourcen beider Koalitionen sind praktisch unbegrenzt. Daher dauert der Krieg auch so lange und ist für alle Beteiligten mit großen Verlusten verbunden. Im Sommer 2023 hatte man sich viel von der Gegenoffensive versprochen, aber am Ende haben die Streitkräfte der Ukraine nur ein rund 400 Quadratkilometer großes Gebiet unseres Territoriums befreien können. Im Herbst begann sofort die russische Gegenoffensive, die bis heute andauert. Es gelang ihnen jedoch nur, etwa 1000 Quadratkilometer zu besetzen. Wenn man bedenkt, dass die Ukraine eine Fläche von 600.000 Quadratkilometern hat und damit größer als Frankreich und Belgien zusammen ist, zeigt sich an solchen Zahlen, wie der Krieg stagniert.
Gleichzeitig sind nun die Streitkräfte der Ukraine in die russische Region Kursk vorgerückt …
Stand heute wurden circa 1250 Quadratkilometer der russischen Gebiete besetzt. Die Frage ist nur, ob sie gehalten werden können. Wenn ja, könnten sie in Verhandlungen zu einem Austauschfonds werden, so offenbar das Kalkül. Putin wird einem solchen Austausch aber wohl nicht zustimmen. Der Durchbruch der russischen Grenze ist daher eher von symbolischem Wert, die Ukrainer haben Hoffnung gewonnen. Aber wir dürfen uns da keine Illusionen machen. Bisher haben die Russen noch nicht einmal Truppen aus dem Donbass in die Region Kursk verlegt.
Wer gewinnt am Ende diese Schlacht?
Meiner Meinung nach wird die Ukraine gewinnen. Putin wollte das Land schnell besetzen und die Regierung in Kyiv durch Marionetten austauschen. Genau dieses Szenario ist aber nicht aufgegangen, weshalb man danach notgedrungen auf einen........
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