In Lichtenberg, zwischen Gehrensee-, Marzahner und Wollenberger Straße, ragt es plötzlich aus den Stadtfluchten heraus wie die Ruine einer mittelalterlichen Burg. Ein „Relikt“, dieses alte Wort kommt einem in den Sinn: historische Hinterlassenschaft, entkernte Welt. Man stößt mit dem Auto fast dagegen in der sonst ja doch recht intakten Stadt.

Der RBB beschrieb das Gelände letztes Jahr als „Geisterstadt aus Beton“, die Anwohner sprachen früher und sprechen noch heute von einem „Schandfleck“, nur tun sie das heute aus anderen Gründen als früher.

Das sagt die Künstlerin Sung Tieu, die den Eingang kennt zu diesen brutalen und brutal traurigen, kaum zu überblickenden Massen von Wohnmaschinen außer Betrieb. Gras und Pflanzen haben sie zum Teil überwuchert, zum Teil leuchten sehr gute Graffiti an den Wänden. 1000 Wohnungen gab es hier, neun Häuserblocks mit jeweils sechs Stockwerken auf über sechs Hektar Land, das eine außergewöhnliche Geschichte hat. Sung Tieu kennt sie.

Vielleicht weiß sogar niemand mehr über diesen Wohnkomplex als die Künstlerin. Sung Tieu, geboren 1987, die viele Preise bekam für ihre Kunst, zuletzt den für künstlerische Forschung der Schering-Stiftung 2024, die in New York ihre Werke zeigt, in Hamburg und London studiert hat, dieser Tage eine Ausstellung für das hiesige Gallery Weekend vorbereitet und die zu den hochgehandelten und interessantesten Künstlerinnen Berlins gehört. Sie kam Anfang der Neunziger als Siebenjährige aus Vietnam nach Deutschland. Ihr Vater war ein paar Jahre zuvor als Vertragsarbeiter in der DDR sesshaft geworden, mit ihrer Mutter zog sie in diesen Komplex, in dem fast ausschließlich Arbeitsmigranten aus Vietnam lebten.

1977 wurde auf einer Brache mit dem Bau begonnen, seit 2003 wohnt hier niemand mehr, jedenfalls nicht offiziell. Seit einem Jahr führt Sung Tieu gelegentlich Gruppen über das Gelände. Informell, sehr großer Andrang. Sie erzählt aus ihrer Recherche zu den Vertrags­arbeitern in der DDR. Seit zehn Jahren macht sie auch Kunst zu diesem Thema.

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Heute sind wir zu zweit. Aber wir sind nicht allein. Immer mal wieder streckt sich uns ein Kinderkopf aus einem der Hausskelette entgegen, eine Gruppe betrachtet den Ort, der durch einen Zaun begrenzt ist, offenbar als Abenteuerspielplatz. Durch die Luft sausen leise Vögel und laut, mit 130 Sachen, aufgemotzte POV-Drohnen, in Campingstühlen sitzen drei Piloten mit gruseligen Video-Helm-Brillen auf den Köpfen. Wie die Kinder sind sie sehr interessiert an Sung Tieus Geschichte. Die Künstlerin versucht zu erklären, was Konzeptkunst ist, ihre Arbeitsweise. Einer der Piloten meldet sich zur Führung an.

Die „Gehrenseestraße“ war einer der größten Wohnheimkomplexe der DDR. Falls dieser Ort jemals einen utopischen Charakter gehabt haben sollte, hat er sich längst in eine Dystopie verwandelt. Aber an diesem Nachmittag findet sich hier auch eine seltsame Friedlichkeit.

In der deutschen Institutionslandschaft gibt es gerade eine in dieser Dichte schon überraschende Aufarbeitung eines komplexen Kapitels DDR-Geschichte. Im Berliner HKW fragt man nach den „Echos der Bruderländer“. Im Dresdner Albertinum richtet man den Blick auf die „Revolutionary Romances“ der DDR zu den Ländern des Globalen Südens. Im Frankfurter MMK schaut man auf die Künstler, die von den 1960er- bis 1980er-Jahren im Rahmen von Stipendien und bilateralen Kulturabkommen mit Arbeitsmigranten und Geflüchteten in das geteilte Deutschland kamen.

Die Geschichte der Gastarbeiter in Deutschland ist nicht nur die Geschichte der türkischen und italienischen Gastarbeiter der BRD, auch in der DDR gibt es bisher vergleichsweise selten erzählte Geschichten aus Möbelkombinat, Chemieindustrie und „Volkseigenen Betrieben“ von Halle über Görlitz bis Bitterfeld. „Wir riefen Arbeitskräfte, und es kamen Menschen“, schrieb der Schriftsteller Max Frisch 1965.

Wurden sie immer als solche behandelt? Die Vertragsarbeiterinnen und -arbeiter der DDR kamen aus den „Bruderländern“, Hunderttausend sollen es gewesen sein, die meisten aus Vietnam. Hier in der „Gehrenseestraße“ wohnten allein viele Tausend zu mehreren in Ein-Zimmer-„Wohnungen“ mit Gemeinschaftsküche und Waschraum, fünf Quadratmeter pro Person waren kalkuliert, es waren wohl meistens weniger, sagt die Künstlerin.

Während wir zwischen den Blöcken der Architekturruine hindurchlaufen, an der noch blass das Schild einer Kneipe steht, „Treffpunkt B.U.S“, wird durch die so klare und deutliche und leise und kluge Erzählung von Sung Tieu eine vergangene Welt wieder auferstehen: Wie 1980 das „Anwerbeabkommen“ der DDR mit der Sozialistischen Republik Vietnam geschlossen wurde, und dann sehr schnell die Vertragsarbeiter alle Wohnungen hier bezogen. Anfangs habe es durchaus die Idee von Solidarität gegeben, sagt Sung Tieu, ab Ende der Achtziger ging es nur mehr um Rentabilität.

Es wird deutlich: Öffentlich wurde im Realsozialismus die „internationale Solidarität“ und „Völkerfreundschaft“ hochgehalten, dahinter steckten auch wirtschaftliche Interessen. Hier um die Ecke wurde zum Beispiel im Fleischkombinat geschuftet. Besuch reglementierte ein Wärter, Frauen durften nicht schwanger werden, Deutschkurse gab es immer weniger, erzählt Sung Tieu. Kontakte zu den deutschen Nachbarn sollten nicht sein. Trotz des durchgeregelten Lebens bedeutete der riesige Wohnkomplex aber auch Kontakt zu Landsleuten, man habe in den weiten Fluren gemeinsam gegessen, später auf die Kinder der anderen aufgepasst. Es war auch ein Schutzraum und Hort von Gemeinschaft.

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„Die Menschen kamen aus einer bestimmten ärmeren, sozialen Schicht hierher“, sagt Sung Tieu, „sie kamen, um zu arbeiten und danach wieder zu gehen. Sie wollten Geld sparen, um es nach Hause zu schicken. Nur merkte man bald, dass die DDR-Mark außerhalb der DDR gar nichts wert war.“

Nach der Wende wurde der Komplex Spekulationsobjekt, die Mieten stiegen stark. Man verlor das Interesse daran, so wie für die Vertragsarbeiter einer DDR, die es nicht mehr gab. Arbeit gab es auch kaum noch. Das Gebäude wurde sich selbst überlassen, die ehemaligen Vertragsarbeiter entwickelten eigene informelle Ökonomien, verkauften zum Teil illegal Blumen und Zigaretten, um zu überleben. Es war auch die Zeit von Rostock-Lichtenhagen und Hoyerswerda, der rechtsradikalen Übergriffe auf genau solche Wohnheime. Am 24. April 1992 wurde der 29-jährige vietnamesische Vertragsarbeiter Nguyễn Văn Tú in Marzahn erstochen. Er war eines der ersten bekannten Todesopfer rechtsextremer Gewalt im wiedervereinigten Deutschland.

Sung Tieu und ihre Mutter, die hier mit einer Freundin in einem Zimmer wohnten, zogen nach Friedrichshain. Irgendwann stehen wir in dem kleinen Zimmer von Block G, zweiter Stock, gehen einen langen Flur entlang, in dem heute Sperrmüll und Unrat herumliegt. Sung Tieu wohnte hier von 1994 bis 1997. 14 Quadrat­meter, ein Fenster zum Hof.

Wir sprechen über ihre Kunst. Sung Tieu nimmt öfter die stille Gewalt bürokratischer Prozesse zum Anlass für ihre Arbeiten. Sie macht Skulpturen und Videos über Sound als Kriegswaffe, über das Trauma des Vietnamkriegs, Gefängnisarchitektur, Erfassung von Menschen als Ware, Verwaltungsapparate. Ihre Ästhetik und Praxis denkt die Tradition der Minimal Art weiter.

Aber sie tut das nicht einfach anklagend, ihre Kunstwerke haben eine ganz bestimmte Formensprache, die sich auch in der Sprache der Künstlerin wiederfindet, als wir spazieren: an der Sache interessiert, distanziert, vorsichtig, pragmatisch, und zwar auf eine sehr zeitgenössische Art pragmatisch, die gar nicht so einfach zu erklären ist. Sung Tieu lässt die Dinge sich selbst entlarven, das ist es wohl.

Ich frage sie, warum in ihrem Werk die Farben Grau und Schwarz so dominieren, die Künstlerin antwortet: „Ich habe vielleicht eine spezielle Beziehung zu persönlichen Objekten. Zumindest in meiner Kindheit hatte ich meistens sehr wenige persönliche Dinge. Wir sind viel umgezogen, haben oft mit Möbeln gelebt, die nicht unsere waren, sondern temporär und sporadisch, die es vorher schon gab. Dieses graue Farbspektrum kommt wohl aus dieser Transiterfahrung.“

Die allgegenwärtige Angst vor Abschiebung war hier tägliches Brot. Migrantische Schulkinder, die den Eltern deutsche Amtspost übersetzen und Anträge ausfüllen, die man höchstens halb versteht, aber für die Familie in einem fremden Land existenzsichernd sind. Wenn alles gut geht. Es kommt einem nah an diesem Tag in der „Gehrenseestraße“. Auf dem riesigen Grundstück will die Howoge mit dem Projektpartner „Belle Époque“ ein Hof- und Hochhausquartier bauen. Bisher ist wenig geschehen, eine Armada temporärer Flüchtlingscontainer steht am Rande des eingezäunten Komplexes. Manches bleibt eben. In Lichtenberg wohnt noch heute die größte vietnamesische Community in Deutschland.

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An diesem Wochenende eröffnet Sung Tieus Ausstellung „Perfect Standard“ in der Kreuzberger Galerie Trautwein Herleth, es geht darin auch um einen Landvermessungsstab, den die französische Kolonialmacht Ende des 20. Jahrhunderts Vietnam aufgezwungen hatte, um das metrische System einzuführen. Durch dieses Einheitensystem konnten die Behörden den Wert ihrer Kolonien besser berechnen. Präzise wurde hier Maß genommen.

Sung Tieu: Perfect Standard. Galerie Trautwein Herleth, Kohlfurter Str. 41/43, vom Gallery Weekend an bis 1. Juni, Di-Sa 11-18 Uhr.

QOSHE - Verdrängte Geschichten der Gewalt: Die Künstlerin Sung Tieu über Vertragsarbeiter in der DDR - Timo Feldhaus
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Verdrängte Geschichten der Gewalt: Die Künstlerin Sung Tieu über Vertragsarbeiter in der DDR

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27.04.2024

In Lichtenberg, zwischen Gehrensee-, Marzahner und Wollenberger Straße, ragt es plötzlich aus den Stadtfluchten heraus wie die Ruine einer mittelalterlichen Burg. Ein „Relikt“, dieses alte Wort kommt einem in den Sinn: historische Hinterlassenschaft, entkernte Welt. Man stößt mit dem Auto fast dagegen in der sonst ja doch recht intakten Stadt.

Der RBB beschrieb das Gelände letztes Jahr als „Geisterstadt aus Beton“, die Anwohner sprachen früher und sprechen noch heute von einem „Schandfleck“, nur tun sie das heute aus anderen Gründen als früher.

Das sagt die Künstlerin Sung Tieu, die den Eingang kennt zu diesen brutalen und brutal traurigen, kaum zu überblickenden Massen von Wohnmaschinen außer Betrieb. Gras und Pflanzen haben sie zum Teil überwuchert, zum Teil leuchten sehr gute Graffiti an den Wänden. 1000 Wohnungen gab es hier, neun Häuserblocks mit jeweils sechs Stockwerken auf über sechs Hektar Land, das eine außergewöhnliche Geschichte hat. Sung Tieu kennt sie.

Vielleicht weiß sogar niemand mehr über diesen Wohnkomplex als die Künstlerin. Sung Tieu, geboren 1987, die viele Preise bekam für ihre Kunst, zuletzt den für künstlerische Forschung der Schering-Stiftung 2024, die in New York ihre Werke zeigt, in Hamburg und London studiert hat, dieser Tage eine Ausstellung für das hiesige Gallery Weekend vorbereitet und die zu den hochgehandelten und interessantesten Künstlerinnen Berlins gehört. Sie kam Anfang der Neunziger als Siebenjährige aus Vietnam nach Deutschland. Ihr Vater war ein paar Jahre zuvor als Vertragsarbeiter in der DDR sesshaft geworden, mit ihrer Mutter zog sie in diesen Komplex, in dem fast ausschließlich Arbeitsmigranten aus Vietnam lebten.

1977 wurde auf einer Brache mit dem Bau begonnen, seit 2003 wohnt hier niemand mehr, jedenfalls nicht offiziell. Seit einem Jahr führt Sung Tieu gelegentlich Gruppen über das Gelände. Informell, sehr großer Andrang. Sie erzählt aus ihrer Recherche zu den Vertrags­arbeitern in der DDR. Seit zehn Jahren macht sie auch Kunst zu diesem Thema.

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Heute sind wir zu zweit. Aber wir sind nicht allein. Immer mal wieder streckt sich uns ein Kinderkopf aus einem der Hausskelette entgegen, eine Gruppe betrachtet den Ort, der durch einen Zaun begrenzt ist, offenbar als Abenteuerspielplatz. Durch die Luft sausen leise Vögel und laut, mit 130 Sachen, aufgemotzte POV-Drohnen, in Campingstühlen sitzen drei Piloten mit........

© Berliner Zeitung


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