Das bekannteste Buch des 1969 in Nordindien geborenen Schriftstellers Pankaj Mishra heißt „Zeitalter des Zorns“ und ist genauso hellsichtig wie trickreich gemacht: Eine „Geschichte der Gegenwart“, wie es im Untertitel heißt, die 2017 wie ein erstes Handbuch zur Ära Trump aufpoppte und all die Nebenwirkungen und Begleiteffekte der Welt beschreibt, die wir heute fast schon für selbstverständlich halten: Nationalismus, wütender Fundamentalismus, superpolarisiert und postfaktisch.

Doch erzählte der Autor davon, indem er fortwährend in leichtestem Ton über das 19. Jahrhundert parliert. Eigentlich handelt das Buch nämlich zu großen Teilen von den Kämpfen, die die Zeitgenossen Voltaire und Rousseau fochten. Der eine bis heute romantischer Archetyp gegenbewegter Blumenkinder, der andere, Voltaire, der erfolgreiche Schriftsteller seiner Zeit, zudem rationaler, etwas zynischer, sehr abgebrühter Berater und Unternehmer.

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In der Auseinandersetzung kristallisiert sich das Hauptthema des Schriftstellers Mishra schon heraus: Nämlich, wie in der hellen Aufklärung und der Idee der vernunftbestimmten Menschen bereits der große Fehler verborgen liegt, der unser Leben bis heute so schwer und gewaltvoll macht. Und es steht auch etwas anderes, wirklich sehr Originelles in dem Buch: Dass nämlich der erste Dschihad 1813 in Deutschland begann als Abwehr gegen Napoleons militärischen und kulturellen Imperialismus.

Bei Mishra rückt die Welt oft verblüffend nah zusammen, und ja, für Deutschland, seine Denker und Kulturen teilt er eine große Faszination, aber dazu später mehr. Mishra kommt aus der nordindischen Provinzstadt Jhansi, nun lebt er schon lange in London und gilt als einer der wenigen bekannten Intellektuellen des sogenannten „Globalen Südens“. Er kennt China und Indien so gut wie Amerika und Europa, wollte früh Schriftsteller werden. Als Student schrieb er Romane, sein Durchbruch gelang ihm mit dem Sachbuch „Butter Chicken in Ludhiana“, einer soziologischen Reise durch kleine, von der großen Globalisierung veränderte Orte in Indien. Mehrere seiner Bücher gelangten auf die Liste der „100 Best Books of the Year“ der New York Times. Vor allem überraschte er in den letzten 20 Jahren immer wieder als Essayist für die hervorragendsten Blätter der westlichen Welt: Seine langen Essays und Kolumnen zu Literatur, Gegenwart und Politik erscheinen regelmäßig etwa in The London Review of Books, New York Times und Guardian.

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03.04.2024

In der London Review of Books hat er zuletzt zwei aufsehenerregende Texte über den Nahostkonflikt geschrieben, in denen er immer wieder besonders Deutschland, seine Geschichte, seine ungebrochene Unterstützung Israels und sogenannte Staatsräson angreift. In „Memory Failure“ und in seiner „Lecture The Shoah after Gaza“ erläutert er, wie unter dem Deckmantel des permanent vor sich her getragenen Schuldbekenntnisses die Deutschen sich einer echten Auseinandersetzung mit dem Antisemitismus entzögen.

Im Spiegel schrieb Mishra Ende 2023, wie sich durch die partielle Befreiung des größten Teils der Weltbevölkerung von westlicher Vorherrschaft neue Denkweisen und Weltsichten entwickelt hätten: „Zum Beispiel die weit verbreitete Ablehnung der westlichen Parteinahme für Israel. Viele nichtwestliche Länder machen heute Israel selbst für die schreckliche Gewalt verantwortlich, die es erleidet.“

Wer Antikolonialismus und Israelkritik besser begreifen will, sollte diesen Autor lesen. Sagen die einen. Andere sind wenig begeistert. In der NZZ wird ihm ein „Verschwörungsnarrativ“ vorgeworfen, in der FAZ beschrieb man seine Auseinandersetzung mit der deutschen Israelpolitik als „küchenpsychologisch“.

Als ich den Autor einmal zum Interview traf, fragte ich ihn, wer die USA als neue Supermacht dereinst beerben würde. „Niemand wird das tun“, antwortete Mishra. „Niemand wird in der Art nachfolgen, wie Großbritannien im 19. und die USA im 20. Jahrhundert dominiert haben. Es gibt heute zu viele Zentren der Macht. China in Ostasien, aber sie haben überhaupt kein Interesse daran, eine solche Supermacht zu sein. Deutschland ist eine riesige Macht in Europa, hat aber ebenfalls kein Interesse. Indien ist weit davon entfernt, das auch nur zu können. Russland wird immer zu viele interne Probleme haben. Wir stehen vor einer neuen Welt, die sich sehr stark unterscheiden wird von der, in der wir gewohnt waren zu leben.“

QOSHE - Pankaj Mishra: Dieser Intellektuelle ist nicht nur ein Vordenker des globalen Südens - Timo Feldhaus
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Pankaj Mishra: Dieser Intellektuelle ist nicht nur ein Vordenker des globalen Südens

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06.04.2024

Das bekannteste Buch des 1969 in Nordindien geborenen Schriftstellers Pankaj Mishra heißt „Zeitalter des Zorns“ und ist genauso hellsichtig wie trickreich gemacht: Eine „Geschichte der Gegenwart“, wie es im Untertitel heißt, die 2017 wie ein erstes Handbuch zur Ära Trump aufpoppte und all die Nebenwirkungen und Begleiteffekte der Welt beschreibt, die wir heute fast schon für selbstverständlich halten: Nationalismus, wütender Fundamentalismus, superpolarisiert und postfaktisch.

Doch erzählte der Autor davon, indem er fortwährend in leichtestem Ton über das 19. Jahrhundert parliert. Eigentlich handelt das Buch nämlich zu großen Teilen von den Kämpfen, die die Zeitgenossen Voltaire und Rousseau fochten. Der eine bis heute romantischer Archetyp gegenbewegter Blumenkinder, der andere, Voltaire, der erfolgreiche Schriftsteller seiner Zeit, zudem rationaler, etwas zynischer, sehr abgebrühter Berater und Unternehmer.

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In der Auseinandersetzung........

© Berliner Zeitung


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