Letztes Jahr wollte ich den Glauben an Gott wiederfinden. Es begann so, dass meine Frau seit einiger Zeit in München lebt, und während sie dort tagsüber ihrer Arbeit nachgeht, wandere ich auf sie wartend stundenlang durch die Straßen der Stadt. Am Ende einer jeden Münchner Straße steht bekanntlich eine schöne Kirche, und eines Sommernachmittags fand ich mich wie von unsichtbarer Engelhand geleitet in einer solchen wieder.

Selbst vollends überrascht, da ich so etwas seit sicher 30 Jahren nicht gemacht hatte, kniete ich plötzlich auf Holzplanken, atmete die kühle Luft und den Geruch des Weihrauchs, und das Licht zauberte sich auf diese zugleich prächtige und zarte Art in den Raum. Ich war ganz allein und spürte doch eine Anwesenheit, die lange nicht da war.

Ein paar Wochen später in Berlin fand ich im Hauseingang, wo die Bewohner immer ein paar ausgelesene Bücher für die Nachbarn deponieren, ein kleines Best-of aus der Bibel mit dem Titel „Die Geschichte von der Erschaffung der Welt“. Ich nahm es mit und las es in kürzester Zeit völlig begeistert. Sofort danach bestellte ich mir die 1500 Seiten lange Originalbibel.

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Aber bevor ich weitererzähle, werde ich Ihnen gleich etwas sagen, denn ich spüre, wie sich die Fragewolken am Horizont bereits zum großen Warum auftürmen. Eine gute Antwort kann ich darauf nicht geben. Ich hatte mir das nicht vorgenommen. Ich wollte nichts unglaublich Originelles tun – während ja alle anderen sich von der Kirche abwenden und hinauslaufen. Es war eher so, dass ich plötzlich etwas Geheimnisvolles, Jahrtausendealtes an mir ziehen spürte.

Als ich Menschen in meinem Umfeld davon erzählte, Gott nah sein zu wollen, erntete ich Irritationen, manchmal gar Wut. Man konnte nicht verstehen, sich nicht einmal vorstellen, was das solle. Meine Familie, die mich traditionsbewusst getauft, in die katholische Kirche eingeführt und jeden Sonntag dorthin geschleppt hatte, war mittlerweile komplett ausgetreten, selbst meine Mutter! Obwohl ich glaube, dass sie ihrer toten, sehr gläubigen Mutter wegen doch nie ganz und gar austreten kann.

gestern

18.05.2024

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Ich wurde mit der Frage traktiert, warum ich mich jetzt für den Laden interessieren würde – die schlimmen Verbrechen durch die Jahrhunderte, die Kirchensteuern, die ewige Heuchelei. Gott habe ausgedient, riefen sie bei Familienfesten und auch überall sonst im Bekanntenkreis: Über fast alles gibt es ja mindestens zwei Meinungen – Gaza, Waffenlieferung an die Ukraine, Verbot der AfD –, aber bei Gott und Kirche sind sich alle einig: Nein danke! Im atheistischen Berlin schon allein aus Tradition.

Ich hatte ihnen wenig entgegenzusetzen. Nur eine Kleinigkeit. Denn da war eben dieser Hauch des Irrationalen und Nieverständlichen. Das, worauf niemand die Antwort kennt. Auch die Künstliche Intelligenz nicht, wenn es sie bald einmal wirklich geben wird. Und da merkte ich in diesen Gesprächen, dass sie alle Angst davor hatten. Denn Gott, das zeigte sich mir zwar bisher nur in kurzen Ausschnitten, wie im Nebel, aber doch immer deutlicher: Gott war letztlich schon das Fantastischste, was wir haben.

Beim Lesen der Bibel fand ich all die Erzählungen, die auch heute noch in der Politik, in den Zeitungen und von Hollywood immer wieder neu verformt und variiert werden. Dieses Buch machte noch immer so viel mit uns, dachte ich euphorisch. Was gibt es denn Vernünftigeres als fast alle dieser zehn Gebote! Aber ich fand in den jahrtausendealten Geschichten vor allem auch den Surrealismus, den Widersinn, den Blödsinn zum Lachen, den Wahnsinn, das Verkehrte und Böse und Schöne.

Ich fand all die Kriege und Katastrophen und den völlig absurden Gott des Alten Testaments. Immer wieder lachte ich laut auf, immer wieder griff ich mir beim Lesen an mein Herz. Ganz besonders natürlich an dieser seltsamen Stelle im Markus-Evangelium, als Jesus am Hügel Golgatha, bereits ans Kreuz genagelt, mit sich und der ganzen Qual im Reinen ist, bis ihn mit einem Mal der Zweifel packt. Ihn, den Sohn Gottes, der Zweifel! Der geknechtete Jesus, kurz vor dem Tod, schreit gen Himmel: „Mein Gott, mein Gott, warum hast du mich verlassen?“

Ich hörte den Schrei Jesu durch die Gegenwart und meine gesamte Existenz hallen. Wieso hatte er mich verlassen?! Und dann natürlich die Apokalypse. Das letzte, halluzinatorischste Kapitel dieses Johannes von Patmos. Da schlittern wir doch gerade wieder mitten hinein! Krieg und Klimakatastrophe ragten auch in meine religiösen Auseinandersetzungen, das endzeitliche Denken und Fühlen und seine zeitgenössischen Propheten waren überall – umkehren sollten wir von unserem eingeschlagenen falschen Weg, die Augen öffnen, das Leben ändern, sonst wäre ganz sicher mit unserem Untergang zu rechnen.

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Ich suchte derweil Antworten im Gottesdienst, fand eine Benediktinerkirche, in der ein toller Priester Gottes Wort verkündete, in stetigen Variationen, in denen sich wie in einem Kaleidoskop die Gegenwart spiegelte. Es war wunderschön, aber es durchdrang mich nicht vollends, ich konnte mich nie von mir selbst befreien, und das machte mich auch ungeduldig und wütend.

Ich las bis zur Erschöpfung Lukas, weil er als der intellektuellste der Evangelisten gilt. Immer wieder Simone Weil, deren klugen Gedanken über glühende Gottesliebe mich einnahmen und veränderten. Ich hörte stunden- und noch mehr stundenlang Bach, ging auf katholische Kongresse, traf junge, sehr kluge Leute, die auch alle Lukas und Simone Weil lasen. Ich begann, für ein neues Buch zu recherchieren, das während der Reformation im Mittelalter spielte, und ich fand das Heute in den Falten der Geschichte vergraben.

Alles war bereits da. In den europäischen Gemäldegalerien schaute ich Cranach und Breughel. Ich reiste nach Sizilien, um meine Lieblingsbilder von Antonello da Messina noch einmal anzuschauen, vor allem die Maria der Verkündigung, das schönste Bild der Welt. Doch am Ende hat es alles nichts geholfen. Stand heute habe ich es nicht geschafft: Ich habe den Glauben nicht wiedergefunden. Ich habe Gott noch nicht wiedergefunden. Aber dafür etwas anderes.

Nun ist Pfingsten. Das Fest, an dem 50 Tage nach Jesu Tod seine Apostel recht bekümmert zusammensaßen. Sie wussten nicht, wie es ohne ihren Chef weitergehen sollte. Da kam während des Essens plötzlich der Heilige Geist über sie. Es gibt wohl kaum eine bewusstseinserweiterndere Episode in der an bewusstseinserweiternden Episoden reichen Bibel: Ein Wind brauste über die Apostel, Feuerzungen erschienen, die Liebe Gottes strömte in sie ein und sie konnten plötzlich in allen Sprachen sprechen. Ihr Glauben war für immer neu entzündet und sie wollten ihn von da an hinaustragen. Sie begannen die Welt mit anderen Augen zu sehen, schöpften neuen Mut, verstanden alles. Im Grunde also genau das, was ich mir wünschte.

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Einer fragte die Apostel damals wohl nicht von ungefähr, ob sie nicht schlicht zu viel getrunken hätten, ja, besoffen wären. Aber nein, sie seien einfach nur erfüllt von ihrem Glauben. Das also, was wir alle uns eigentlich wünschen, nicht? Wir wollen betrunken sein. Immerfort! Ohne Ende voll von etwas, in einer Zeit, in der man sich ständig leer fühlt. Gemeinschaft, wo wir stets einsam sind. Immerwährender Sinn, wo alles so sinnlos scheint. Wir wollen uns verstehen in allen Sprachen. Jedoch: Wir sind von der Freiheit bedroht. Das hat mir die Autorin Sophia Magdalena Eisenhut jedenfalls einmal erzählt und es ergab mächtig Sinn im Schöneberger Café.

Wir hatten uns getroffen, um über den Katholizismus zu sprechen. Was an diesem faszinierte, sagte sie, sei doch die Universalität, sei der Glaube an sein alles vereinheitlichendes, gleichschaltendes, alles versöhnendes Potenzial. Ihr kleiner Hund saß neben ihr, als sie das sagte. Ich aß einen Kuchen. Der Katholizismus war noch lange vor dem Kommunismus die älteste Institution gegen den aufkommenden Pluralismus, der toll ist, wie sie sagte, den wir begrüßen, wie sie immer wieder betonte, aber der natürlich auch die Herde zerstäube und Streit und Zwietracht sähe.

Ich fand das damals sehr schlau. Und finde es auch noch heute. Wir könnten beide schlecht mit der Freiheit umgehen, hielten wir fest. Aber wir liebten sie auch sehr. Wir lieben unsere Freiheit und wir lieben das Zweifeln und wollen immer nur tun können, was wir uns ausdenken. Aber all die Möglichkeiten und das Zweifeln machen uns auch sehr schlecht gelaunt. Die Freiheit kommt nicht ohne ein Opfer. Und so sollte ich also vorerst weiterhin zu den Uneingeweihten gehören, denen die Geheimnisse des Reiches Gottes verstellt bleiben, die durch die Welt gehen und „sehend nicht sehen und hörend nicht verstehen“, wie es bei Lukas heißt. Aber es gibt natürlich Hoffnung. Ohne Hoffnung keine Religion. Im Englischen heißt es ja grandioserweise: „God is nowhere. God is now here.“ Zwischen Abwesenheit und Präsenz nur ein einziges Leerzeichen. Zu Pfingsten finden Sie mich vielleicht mal wieder im Gottesdienst.

QOSHE - Heiliger Geist: Wie ich ein Jahr lang versuchte, wieder an Gott zu glauben - Timo Feldhaus
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Heiliger Geist: Wie ich ein Jahr lang versuchte, wieder an Gott zu glauben

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20.05.2024

Letztes Jahr wollte ich den Glauben an Gott wiederfinden. Es begann so, dass meine Frau seit einiger Zeit in München lebt, und während sie dort tagsüber ihrer Arbeit nachgeht, wandere ich auf sie wartend stundenlang durch die Straßen der Stadt. Am Ende einer jeden Münchner Straße steht bekanntlich eine schöne Kirche, und eines Sommernachmittags fand ich mich wie von unsichtbarer Engelhand geleitet in einer solchen wieder.

Selbst vollends überrascht, da ich so etwas seit sicher 30 Jahren nicht gemacht hatte, kniete ich plötzlich auf Holzplanken, atmete die kühle Luft und den Geruch des Weihrauchs, und das Licht zauberte sich auf diese zugleich prächtige und zarte Art in den Raum. Ich war ganz allein und spürte doch eine Anwesenheit, die lange nicht da war.

Ein paar Wochen später in Berlin fand ich im Hauseingang, wo die Bewohner immer ein paar ausgelesene Bücher für die Nachbarn deponieren, ein kleines Best-of aus der Bibel mit dem Titel „Die Geschichte von der Erschaffung der Welt“. Ich nahm es mit und las es in kürzester Zeit völlig begeistert. Sofort danach bestellte ich mir die 1500 Seiten lange Originalbibel.

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Als ich Menschen in meinem Umfeld davon erzählte, Gott nah sein zu wollen, erntete ich Irritationen, manchmal gar Wut. Man konnte nicht verstehen, sich nicht einmal vorstellen, was das solle. Meine Familie, die mich traditionsbewusst getauft, in die katholische Kirche eingeführt und jeden Sonntag dorthin geschleppt hatte, war mittlerweile komplett ausgetreten, selbst meine Mutter! Obwohl ich glaube, dass sie ihrer toten, sehr gläubigen Mutter wegen doch nie ganz und gar austreten kann.

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18.05.2024

18.05.2024

Ich wurde mit der........

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