Warum verwahrlost Berlin? Verstörende Antworten einer Sozialberaterin
Das Leben wird rauer, die Beziehungen der Menschen untereinander verändern sich. Das Gefühl, alles zerbrösele, breitet sich aus. Kristine Leithold, Sozialberaterin, besonders für russische, ukrainische und jüdische Migranten, nimmt in ihrem Alltag beunruhigende Veränderungen wahr: Einst selbstverständliche Dinge, namentlich solche im Sozialwesen, funktionieren nicht mehr wie gewohnt.
Die Ost-Berlinerin mit einem „Sozialarbeiter-Gen“ betreut seit Jahrzehnten Russen, viele Juden aus der früheren Sowjetunion und Ukrainer. In den 1990er-Jahren fanden 220.000 jüdische Menschen aus der ehemaligen Sowjetunion in Deutschland Aufnahme; dazu kamen 2,4 Millionen sogenannte Spätaussiedler, deutschstämmige Menschen, deren Familien jahrhundertelang im Gebiet der einstigen Sowjetunion gelebt hatten.
Nach dem russischen Überfall auf die Ukraine im Frühjahr 2022 kamen mehr als eine Million ukrainische Kriegsflüchtlinge hinzu. Kristine Leithold macht darauf aufmerksam, dass etwa 90 Prozent dieser Menschen russischsprachig sind, weil sie aus den am stärksten vom Krieg betroffenen Gebieten im Osten der Ukraine kommen. „Nur eine Minderheit von ihnen will nicht Russisch sprechen“, sagt sie und erinnert daran, dass Juden schon im Jahr 2015 wütend waren auf die „falsche Einwanderung“ – sie ahnten, was da auf sie zukommen würde. Dagegen herrschte unter den Biodeutschen Blindheit.
Viele der jüdischen Kontingentflüchtlinge seien inzwischen selbstverständlicher Teil der Gesellschaft, akademisch gebildet, hätten sie die deutsche Staatsbürgerschaft, seien wirtschaftlich, politisch sowie kulturell engagiert – aber es gibt wie überall und immer auch die schwierigen Fälle. Mit solchen hat Kristine Leithold zu tun.
Frau Leithold, wie sieht Ihr derzeit schwierigster Fall aus?
Das ist eine 95 Jahre alte bettlägerige Frau, eine russische Jüdin, dement, Pflegestufe 5. Sie wird seit drei Jahren von ihrer Schwiegertochter, die extra dafür aus Georgien nach Berlin kam, rund um die Uhr gepflegt. Diese soll abgeschoben werden. Nun muss man dem zuständigen Amt erklären, dass im Fall einer Abschiebung eine hilflose Frau allein zurückbliebe.
Das klingt hart. Ist das eine Ausnahme?
Nein, ich betreue derzeit zwölf derart schwierige Fälle. Und es ist immer schwieriger geworden, mit den zuständigen Ämtern Lösungen für sehr komplexe Problemlagen zu finden: Viele ältere, erfahrene Mitarbeiterinnen sind ausgeschieden, die jüngeren Fachkräfte mit weniger Erfahrung sind in der Tendenz weniger verbindlich. Ich sehe eine neue Gleichgültigkeit. Ganz kompliziert sind Kontaktaufnahme und Kommunikation: Man erreicht praktisch niemanden mehr.
Es gibt keine Öffnungszeiten, keine........
© Berliner Zeitung
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