Wer überfallen wird, darf sich wehren. Wenn das Recht vor existenziellen Bedrohungen nicht schützt, dann ist es nur der Form nach Recht. Deshalb spricht die Charta der Vereinten Nationen vom „naturgegebenen Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ im Falle eines bewaffneten Angriffs. So, wie jeder Mensch, der sich gegen einen rechtswidrigen Angriff wehrt, keine verbotene Selbstjustiz begeht, sondern das Recht hochhält, so muss auch kein Staat eine Verletzung seiner Integrität hinnehmen. Denn es geht ums Ganze.

Natürlich gilt auch: Es ist auch Ausdruck von Selbstbestimmung, wie man auf eine Aggression reagiert. Aber die Abwehr eines Überfalls darf wirksam sein. Israel muss sich nicht darauf beschränken, Raketen der Hamas abzufangen und Terroristen auszuschalten, die auf sein Staatsgebiet vordringen. Es darf die Quelle fortdauernder Angriffe beseitigen – zugleich aber Zivilisten nicht zum Ziel seiner Angriffe machen. Die Lage im dicht besiedelten Gazastreifen offenbart ein Dilemma, ändert aber nichts am Recht Israels auf Selbstverteidigung.

Der nun bald zwei Jahre dauernde, weitgehend in einen Stellungskrieg übergegangene Kampf in der Ukraine hat auch zu einem Stellungskrieg der Meinungen geführt. Kein Volk und kein Staat sollte aber im ureigenen Interesse vergessen, dass hier Freiheit und Selbstbestimmung, Souveränität und Integrität sowie – und zwar nicht zuletzt – die Menschenrechte verteidigt werden. Wenn der flagrante und fortdauernde Bruch internationalen Rechts durch das Moskauer Regime geduldet und zu einem dauerhaften Zustand würde, so beträfe das die gesamte internationale Gemeinschaft und die Existenz jedes Staates.

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Es ist das gute Recht aller zivilisierten Nationen, eine Ausweitung der Kriegshandlungen zu verhindern und größeres Blutvergießen zu verhindern. Aber man sollte nicht so tun, als verhindere das Recht den Beistand für ein überfallenes Opfer. Die Ukraine darf Russland selbstverständlich auf dem von Moskau besetzten ukrainischen Gebiet treffen, dazu gehört übrigens weiterhin die Krim. Es darf aber auch militärische Ziele in Russland selbst angreifen, was Kiew auch schon getan hat, ohne in irgendeiner Form offensichtlich unverhältnismäßig zu handeln. Dabei darf jeder Staat der Ukraine zu Hilfe eilen. Auch Deutschland.

Es wäre höchst fragwürdig, das Grundgesetz, also diesen Gegenentwurf zum verbrecherischen NS-Staat, so auszulegen, als hindere es daran, ein Opfer totalitärer Eroberungspolitik zu verteidigen. Nun sind zweifellos die Lieferung von Waffen und Ausbildung von Streitkräften etwas anderes als ein Einsatz deutscher Soldaten in der Ukraine oder die Programmierung von Zielen durch deutsche Soldaten in diesem Krieg.

Und doch lässt die endlose Taurus-Debatte den Blick für das Wesentliche vermissen. Längst ist die Verfassungswirklichkeit über das Stadium hinaus, dass die Bundeswehr nur zur Verteidigung des eigenen Landes und unter bestimmten Voraussetzungen im Innern eingesetzt werden kann.

Innovativ und mit Blick auf die veränderte Weltlage hatte das Bundesverfassungsgericht auch Einsätze der Bundeswehr im Rahmen von, wie es im Grundgesetz heißt, „Systemen gegenseitiger kollektiver Sicherheit“ gebilligt, sofern der Bundestag im Einzelfall zustimmt. Wer die Bundeswehr nicht einsetzen will, mit der Folge, dass auch der Bundestag sich nicht damit befassen müsste, der sollte der ­Ukraine vertrauen und ihr die Zielauswahl für die Marschflugkörper überlassen. Mit deutschen Waffen wird die Ukraine schon jetzt verteidigt – die Ängste der Bundesregierung, dass etwa Leopard-Kampfpanzer gen Moskau in Marsch gesetzt würden, haben sich als unbegründet erwiesen.

Wer Taurus liefern will, aber den Ukrainern nicht vertraut, sollte auch keine Angst haben. Der Bundestag würde ja wohl zustimmen. Und das Bundesverfassungsgericht? Ein System kollektiver Sicherheit muss nicht unbedingt in einem Bündnis verfestigt sein. Es gilt zudem das in der UN-Charta verankerte Recht auf kollektive Selbstverteidigung. Im Übrigen hat Deutschland die auch verfassungsrechtliche Pflicht, Angriffskriege zu verhindern. Sollte man die wehrhafte deutsche Grundordnung wirklich so auslegen, dass man einem europäischen Staat nicht militärisch gegen einen Aggressor beistehen kann?

Des Pudels Kern ist der fehlende Wille der Bundesregierung, Kiew das zu liefern, was sie kann und was bitter nötig ist. Deutschlands bisheriger Beitrag ist mehr als beachtlich – gerade auch im Verhältnis zu Frankreich und Großbritannien. Wenn nicht geholfen wird, geht der russische Eroberungswahn weiter. Deshalb sollte der Friedensauftrag der Vereinten Nationen wie des Grundgesetzes ernst genommen werden. Gegen einen unbarmherzigen Aggressor, gegen den selbst Gandhi wohl nicht nur waffenlosen Widerstand geleistet hätte, muss der Frieden mit Waffen geschaffen werden.

QOSHE - Frieden schaffen mit Waffen - Reinhard Müller
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Frieden schaffen mit Waffen

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16.02.2024

Wer überfallen wird, darf sich wehren. Wenn das Recht vor existenziellen Bedrohungen nicht schützt, dann ist es nur der Form nach Recht. Deshalb spricht die Charta der Vereinten Nationen vom „naturgegebenen Recht zur individuellen oder kollektiven Selbstverteidigung“ im Falle eines bewaffneten Angriffs. So, wie jeder Mensch, der sich gegen einen rechtswidrigen Angriff wehrt, keine verbotene Selbstjustiz begeht, sondern das Recht hochhält, so muss auch kein Staat eine Verletzung seiner Integrität hinnehmen. Denn es geht ums Ganze.

Natürlich gilt auch: Es ist auch Ausdruck von Selbstbestimmung, wie man auf eine Aggression reagiert. Aber die Abwehr eines Überfalls darf wirksam sein. Israel muss sich nicht darauf beschränken, Raketen der Hamas abzufangen und Terroristen auszuschalten, die auf sein Staatsgebiet vordringen. Es darf die Quelle fortdauernder Angriffe beseitigen – zugleich aber Zivilisten nicht zum Ziel seiner Angriffe machen. Die Lage im dicht besiedelten Gazastreifen offenbart ein Dilemma, ändert aber nichts am Recht Israels auf Selbstverteidigung.

Der nun bald zwei Jahre dauernde, weitgehend in einen Stellungskrieg übergegangene Kampf in der Ukraine hat auch zu einem Stellungskrieg der Meinungen geführt. Kein Volk und kein Staat........

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