Viel redet diese Regierung von Identitäten, Selbstbestimmung, Verantwortung, Wehrfähigkeit. Aber woher wir kommen, also was wir sind, und was wir somit eigentlich verteidigen sollen, das bleibt im Dunkeln. Wo alles eine Welt ist und natürlich jeder eine Mi­grationsgeschichte hat, verschwimmt jeder Unterschied. Dabei gibt es sie doch, diese Verschiedenheiten, jeder weiß es im Grunde, und wir wollen doch aus der Geschichte lernen. Aus der ganzen Geschichte.

Alles wird historisiert, aber es gibt überhaupt keinen Grund, sich gerade heute der Geschichte der Deutschen im Osten schleichend zu entledigen. Man könnte ja als deutsche Regierung auch selbstbewusst, wenn denn der Stolz schon für Energiewende und Gesellschaftspolitik reserviert ist, auf eine jahrhundertealte, heute noch spürbare Kultur blicken. Man könnte wirklich mahnend an die genozidale Vertreibung von Millionen von Landsleuten erinnern. Und aus diesem Menschheitsverbrechen lernen, das nicht durch Kontext verharmlost werden sollte. Es ist kein Revisionismus, sondern eine Frage der nationalen Identität, die Geschichte und Kultur des eigenen Landes, also seiner Menschen, zu pflegen und dabei keine Untat, aber auch keine Wunde und Amputation zu verschweigen.

In einer Zeit, in der bald die Angehörigen der Erlebnisgeneration nicht mehr berichten können, die in Königsberg, Danzig oder Stettin geboren wurden oder aus Bessarabien, Brünn und dem Baltikum stammen, löscht die Bundesregierung schon die Erinnerung an sie. In einer Zeit, in der die deutsche Kolonialgeschichte hoch im Kurs steht und die Neigung, damalige Untaten mit heutiger Brille zu sehen, wird mit Blick auf deutsche Opfer der Begriff der Vertreibung eher gemieden. Aber die Geschichte besteht nicht nur aus Wanderschaften.

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QOSHE - Die Auslöschung der eigenen Kultur - Reinhard Müller
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Die Auslöschung der eigenen Kultur

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09.04.2024

Viel redet diese Regierung von Identitäten, Selbstbestimmung, Verantwortung, Wehrfähigkeit. Aber woher wir kommen, also was wir sind, und was wir somit eigentlich verteidigen sollen, das bleibt im Dunkeln. Wo alles eine Welt ist und natürlich jeder eine Mi­grationsgeschichte hat, verschwimmt jeder Unterschied. Dabei gibt es sie doch, diese Verschiedenheiten, jeder weiß es im Grunde, und wir wollen doch aus der Geschichte lernen. Aus der ganzen Geschichte.

Alles wird historisiert, aber es gibt überhaupt keinen Grund, sich gerade heute der Geschichte........

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