2019 waren sie sieben, heuer sind sie drei: während die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten jeweils mit einem Spitzenkandidaten in die Europawahl gehen, bieten Europas Liberale erneut ein Team auf. Am Mittwochabend wurde dieses in Brüssel im Museum der schönen Künste offiziell gekürt. Valérie Hayer ist natürlich eine der drei, die französische Europaabgeordnete steht schließlich seit Jänner Renew Europe, der europäischen liberalen Parteienfamilie, vor. Dazu kommt Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP, die den Verteidigungsausschuss im Bundestag leitet, sowie Sandro Gozi, ein italienischer Europaabgeordneter und früherer Europastaatssekretär unter dem politischen Chamäleon Matteo Renzi.

Wobei: anders als Ursula von der Leyen, die für die EVP um ihre eigene Nachfolge an der Spitze der Europäischen Kommission kandidiert, sowie Luxemburgs EU-Kommissar Nicolas Schmit, der sich schon mit dem Amt des Ersten Vizepräsidenten derselben zufrieden geben würde, hegen die Liberalen keine wirklichen Ambitionen darauf, die mächtigste EU-Institution zu führen. Man wolle Einfluss auf Europas Politik nehmen, sich nicht an Posten klammern, ist die Linie, mit der Hayer seit Tagen Fragen nach den Chefsesselambitionen ihrer Partei zu parieren versucht.

Wirklich realistisch wäre der Anspruch auf den Chefsessel im Berlaymont-Gebäude ohnehin nicht. Mit 102 Abgeordneten sind sie derzeit hinter EVP und Sozialdemokraten die drittstärkste Fraktion. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass sie gut ein Fünftel davon verlieren dürften. Vermutlich werden die Europäischen Konservativen und Reformer (EKR; da sind derzeit die polnische PiS und die italienischen Fratelli d‘Italia dabei) sie überholen, vielleicht sogar die rechtsextreme „Demokratie und Identität (unter anderem mit der FPÖ und der Le-Pen-Partei Rassemblement national). Schon 2019 war es, gelinde gesagt, eher kühn, als sich die damals in Brüssel extrem populäre Wettbewerbskommissarin Margrethe Vestager (eine der sieben, von den anderen sechs fällt mir spontan nur mehr Guy Verhofstadt ein, der seine politische Karriere heuer beenden dürfte) kurzzeitig einbildete, Kommissionspräsidentin werden zu können.

Was also wollen die Liberalen? Ein Manifest haben sie am Mittwoch ebenfalls beschlossen. Es beginnt mit dem vergeblichen Versuch, die ablaufende Amtszeit bescheiden zu kommentieren: „Diese Legislaturperiode ist eine Erfolgsgeschichte. Eine Renew-Geschichte.“ In dieser Tonalität geht es weiter: „Wir sind die treibende Kraft, die konkrete Lösungen für die Covid-19-Pandemie gebracht haben. Wir sind jene, die danach streben, den Grünen Deal zu einer Erfolgsgeschichte zu machen. Wir sind die Architekten, die eine sicherere digitale Welt bauen. Wir sind die Reformer, welche die Migrationspolitik der EU neu formen. Wir sind die Kraft, welche die Ukraine weiterhin unterstützen wird, bis sie gewinnt. Wir sind jene, welche die Autokraten für ihre Verletzungen des EU-Rechts zur Kasse bitten.“

Nun ja. Ganz alleine haben die Liberalen all diese Dinge nicht gestemmt, möchte man zart einwenden. Aber gut: politische Gebrauchsprosa ist nicht immer von Faktizität und Großmut gegenüber dem politischen Mitbewerb geprägt. Blicken wir lieber darauf, was die Liberalen nun wollen. Zehn Punkte umfasst ihr Manifest. Erstens mehr Verteidigungspolitik (aber dankenswerterweise ohne Erwähnung des Trugbilds „EU-Armee“, in das ihr österreichisches Mitglied, die Neos, so vernarrt sind), zweitens mehr Wettbewerbsfähigkeit (wofür es einen weiteren Zehn-Punkte-Plan gibt, den ich Ihnen aber erspare; in nuce geht es – Überraschung! – um Entbürokratisierung und mehr Forschungsinvestitionen), drittens den Schutz der europäischen Werte (Stichwort: Rechtsstaat), viertens mehr Einsatz für die Rechte von Frauen und sexuellen Minderheiten, fünftens die Versöhnung von Klimaschutz und den Nöten der Landwirte (viel Glück damit), sechstens die Umsetzung des Grünen Deals und der neuen digitalen Gesetze, siebtens mehr Geld für Bildung und Kultur, achtens eine angemessene und humane Migrationspolitik (dichte Grenzen, aber faire und schnelle Asylverfahren, mit der Würde der Migranten stets im Blick), neuntens der Bau einer „globalen Allianz der Demokratien“ (wie, bleibt offen) und zehntens EU-Vertragsreformen.

Man sieht: hier ist für fast jeden irgendetwas dabei. Böse Zungen behaupten, die Beliebigkeit sei das schärfste Wesensmerkmal der Liberalen. Ganz falsch ist das nicht. Zugleich aber macht diese bisweilen ins Situationselastische reichende Flexibilität die Liberalen zu so erfolgreichen Koalitionsbildern. Mit diesem Zehn-Punkte-Programm sollten von der EVP über die Sozialdemokraten bis zu den Grünen und vielleicht sogar den Linken Kompromisse möglich sein. Und nur, wer Mehrheiten ermöglicht, kann konkrete Politik bewegen.

Bloß: wo endet die Geschmeidigkeit der Liberalen? Bei den Rechtsextremen, betonte Hayer am Mittwochmorgen vor dem Parteikongress in einem Gespräch mit Korrespondenten, an dem ich teilnahm. Ein Beispiel dafür sei die niederländische Partei von Geert Wilders. Mit der allerdings verhandelt die liberale VVD derzeit über eine Koalition. Wäre das ein Ausschließungsgrund? Hayer drückte sich um diese Frage herum. Am wahrscheinlichsten sei es ohnehin, dass es in den Niederlanden Neuwahlen gebe, meinte sie.

Und auch der Gretchenfrage nach dem Wahltag des 9. Juni wich sie aus. Würde Renew Europe von der Leyen im Europaparlament unterstützen, wenn vorab klar ist, dass zum Beispiel die EKR mit den postfaschistischen Fratelli d‘Italia von Ministerpräsidendtin Giorgia Meloni sie unterstützen, wollte ich wissen. Dezidiert ausschließen wollte Hayer das nicht. Es komme auf die konkrete Zusammensetzung der EKR an. Punktuell habe man in Sachfragen ohnehin schon mit ihnen gemeinsam gestimmt.

Die Liberalen sind also 2024 wieder das, was sie jedesmal sind: nach (fast) allen Seiten offen. Als zentristischer Teil der Mehrheit im Parlament werden sie unverzichtbar für von der Leyen sein. Unverständlich ist bloß, wieso sie sich nicht teurer verkaufen. Denn die Präsidentin hatte 2019 nur eine Neun-Stimmen-Mehrheit im Parlament. Und einige, die sie damals wählten, werden das heuer nicht mehr tun – allen voran die ungarische Fidesz und die die polnische PiS: jene „HAndwerker der europäischen Uneinigkeit“, vor denen das liberale Manifest warnt.

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Europas Liberale, wieder einmal nach allen Seiten offen

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21.03.2024

2019 waren sie sieben, heuer sind sie drei: während die Europäische Volkspartei (EVP) und die Sozialdemokraten jeweils mit einem Spitzenkandidaten in die Europawahl gehen, bieten Europas Liberale erneut ein Team auf. Am Mittwochabend wurde dieses in Brüssel im Museum der schönen Künste offiziell gekürt. Valérie Hayer ist natürlich eine der drei, die französische Europaabgeordnete steht schließlich seit Jänner Renew Europe, der europäischen liberalen Parteienfamilie, vor. Dazu kommt Marie-Agnes Strack-Zimmermann von der FDP, die den Verteidigungsausschuss im Bundestag leitet, sowie Sandro Gozi, ein italienischer Europaabgeordneter und früherer Europastaatssekretär unter dem politischen Chamäleon Matteo Renzi.

Wobei: anders als Ursula von der Leyen, die für die EVP um ihre eigene Nachfolge an der Spitze der Europäischen Kommission kandidiert, sowie Luxemburgs EU-Kommissar Nicolas Schmit, der sich schon mit dem Amt des Ersten Vizepräsidenten derselben zufrieden geben würde, hegen die Liberalen keine wirklichen Ambitionen darauf, die mächtigste EU-Institution zu führen. Man wolle Einfluss auf Europas Politik nehmen, sich nicht an Posten klammern, ist die Linie, mit der Hayer seit Tagen Fragen nach den Chefsesselambitionen ihrer Partei zu parieren versucht.

Wirklich realistisch wäre der Anspruch auf den Chefsessel im Berlaymont-Gebäude ohnehin nicht. Mit 102 Abgeordneten sind sie derzeit hinter EVP und Sozialdemokraten die drittstärkste Fraktion. Alle Umfragen deuten darauf hin, dass sie gut ein Fünftel davon verlieren dürften. Vermutlich werden die Europäischen........

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