Den Tod eines des unbeugsamen russischen Regimekritikers Boris Nemzow infolge eines heimtückischen Attentats vom 27. Februar 2015 hat das Putin-Regime beinahe unbeschadet überstanden. Wird auch der Tod Alexej Nawalnys keine gravierenden Folgen für das herrschende Establishment in Russland nach sich ziehen?

Der Tod Alexej Nawalnys in einer Strafkolonie im unwirtlichen Norden Russlands erschütterte sowohl die Weltöffentlichkeit als auch unzählige russische Anhänger dieses unbeugsamen Kremlkritikers: „Heute ist die Hoffnung gestorben. Wir alle haben sie getötet“ – diese Worte konnte man kurz nach dem Tod Nawalnys in den russischen sozialen Medien lesen. Und ein anderer Landsmann Nawalnys fügte hinzu:

Nawalny starb, weil wir seiner nicht würdig waren.

In diesen Worten spiegeln sich die Ohnmacht und die Hoffnungslosigkeit der russischen Regimekritiker wider. Der Kreml-Diktator scheint sein Ziel erreicht zu haben. Die im Lande noch verbliebenen entschlossensten Regimegegner sind entweder inhaftiert (Sergej Kara-Mursa, Ilja Jaschin und viele andere) oder brutalen Repressalien ausgesetzt wie z.B. die Mitglieder des vom Regime verbotenen Gesellschaft „Memorial“.

Da die Putinsche Diktatur nach der „Zeitenwende“ vom 24. Februar 2022 einen totalitären Charakter annahm, versucht sie, ähnlich wie alle anderen totalitären Regime der Moderne die Gesellschaft gänzlich zu atomisieren und alle organisatorischen Verbindungen, die vom Staat nicht kontrolliert sind, zu zerschlagen. Diese Taktik prangerte Nawalny bereits im Jahre 2021 in einer seiner Gerichtsreden an:

Das ist das Wichtigste, was dieser Machtapparat, was unser ganzes System (den Regimekritikern) sagen will ‚Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger‘. Zuerst Angst einjagen und dann zeigen, dass du allein bist…Ja, die Sache mit der Einsamkeit ist sehr wichtig.

Noch vor drei Jahren schienen sich die Dinge ganz anders zu verhalten. Damals (Ende Januar 2021) fanden landesweite Proteste gegen die willkürliche Inhaftierung Nawalnys statt, der, trotz vieler Warnungen, sich dazu entschlossen hatte, nach Russland zurückzukehren – dies ungeachtet der Tatsache, dass einige Monate zuvor (im August 2020) dort ein Versuch stattgefunden hatte, ihn mit dem Gift „Nowitschok“ zu ermorden.

Diese Proteste, die an die Massenproteste gegen die manipulierten Duma-Wahlen vom Dezember 2011 erinnerten, stimmten einige russische Regimekritiker sehr hoffnungsvoll:

„Wir leben jetzt in einem anderen Land“, schrieb Ende Januar 2021 einer der prominentesten Oppositionspolitiker, Leonid Gosman, in der regimekritischen Zeitung „Nowaja gaseta“, als er über die Folgen der Massenkundgebungen der Nawalny-Anhänger reflektierte. Der Leiter des regimekritischen Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“, Lew Gudkow, war hingegen skeptischer. Am 3. Februar 2021 schrieb er auf dem Portal „Liberalnaja missija“ (die Liberale Mission) Folgendes:

Die dünne Schicht der protestierenden Minderheit … (kann nicht) die grundlegende Struktur des Verhältnisses zwischen Staat und Bevölkerung verändern. Solange diese Problematik … nicht entsprechend analysiert wird, wie dies in Bezug auf den Nationalsozialismus (in Deutschland) geschah, wird keine Protestbewegung imstande sein, eine Gesellschaft zu verändern, die nicht in der Lage ist, ihre totalitäre Vergangenheit zu bewältigen.

Bei diesem Vergleich zwischen der deutschen und der russischen Vergangenheitsbewältigung lässt Gudkow indes Folgendes außer Acht. Die Tatsache, dass im westlichen Teil Deutschlands nach dem wohl beispiellosen Zivilisationsbruch von 1933-1945 das stabilste demokratische Gemeinwesen auf deutschem Boden errichtet werden konnte, war untrennbar mit dem Marshall-Plan und mit dem sonstigen Beistand der Staaten der freien Welt verbunden. Nicht weniger wichtig war in diesem Zusammenhang auch die allmähliche Integration der Bundesrepublik in die wirtschaftlichen und sicherheitspolitischen Strukturen des Westens. Die prowestlich orientierten Gruppierungen im postsowjetischen Russland, die zu Beginn der 1990er Jahre in der politischen Klasse Russlands noch dominierten, strebten ebenfalls eine engere Anbindung Russlands an den Westen an. Dieses Ziel wurde aber, aus welchen Gründen auch immer, nicht erreicht. So vollzog sich die Auseinandersetzung mit dem totalitären Erbe im postsowjetischen Russland unter ganz anderen Bedingungen, als dies in der Bundesrepublik der Fall gewesen war. Dies war einer der Gründe dafür, dass die im August 1991 gegründete „zweite“ russische Demokratie etwa 9 Jahre später durch die „gelenkte Demokratie“ Wladimir Putins abgelöst wurde. Und es gehörte zu den wichtigsten Vorhaben des neuen Kremlherrschers, die Ergebnisse der Revolution vom August 1991 (des russischen „Maidan“) ungeschehen zu machen. Dabei richteten sich die Angriffe des Machtapparats vor allem gegen die Symbolfiguren der russischen Zivilgesellschaft, die aufgrund ihrer Popularität vom Regime als eine außerordentlich gefährliche Herausforderung empfunden wurden. Zu diesen Symbolfiguren des Widerstandes zählten in erster Linie Boris Nemzow und Alexej Nawalny. Das propagandistische Feuer der vom Kreml gelenkten Massenmedien war in erster Linie gegen diese beiden unbeugsamen Kämpfer um das „andere Russland“ gerichtet.

Als Boris Nemzow am 27. Februar 2015 ermordet wurde, vollzog sich dieser Mord nach einem Szenario, das einer der Vordenker des revolutionären Terrorismus, Sergej Netschajew, vor etwa 150 Jahren entworfen hatte. Die Rollen waren damals allerdings vertauscht. Verfechter der Reform befanden sich in der Regierung und ihre Gegner in der Opposition.

In seinem 1869 verfassten sogenannten „Revolutionskatechismus“ schrieb Netschajew: „An erster Stelle müssen (diejenigen) vernichtet werden, die für die revolutionäre Organisation am verderblichsten sind und deren gewaltsamer Tod am geeignetsten ist, die Regierung zu erschrecken und ihre Macht zu erschüttern, indem er sie der energischsten und intelligentesten Agenten beraubt“. Im Sinne Netschajews handelte die 1879 gegründete Terrororganisation „Narodnaja Wolja (Volkswille bzw. Volksfreiheit), deren wichtigstes Ziel die Ermordung des Zaren Alexander II. (1855-1881), der ein gewaltiges Reformwerk im Lande in die Wege geleitet hatte. Da aber die „Narodnaja Wolja“ nicht an einer Reform, sondern an einer völligen Zerstörung des bestehenden Systems interessiert war, wurde der liberale Zar zu ihrem wichtigsten Hassobjekt und seine Ermordung zu ihrem wohl zentralen Ziel. Sie wollte dadurch den Staat im Sinne Netschajews seiner „energischsten Agenten“ berauben und leitete eine regelrechte Menschenjagd in die Wege. Sechs Attentatsversuche scheiterten, beim siebten, am 1. März 1881, hatten die Terroristen den gewünschten Erfolg.

Auch die russische Opposition wurde nun durch die Ermordung Boris Nemzows und durch den Tod Alexej Nawalnys ihrer „energischsten“ Vertreter beraubt.

Das Attentat auf Nemzow konnte das Regime glimpflich überstehen. Dies nicht zuletzt deshalb, weil die Annexion der Krim im März 2014 gegen die Nemzow heftig protestierte, von der Bevölkerungsmehrheit uneingeschränkt begrüßt wurde und die nach den bereits erwähnten Protesten der Jahre 2011/2012 angeschlagene Popularität Putins erheblich steigerte. Wird auch der Tod Nawalnys für Putins Machterhalt ohne greifbare Folgen bleiben? Dies ungeachtet der Tatsache, dass die Konstellation des Jahres 2024 sich von derjenigen des Jahres 2015 gründlich unterscheidet. Die Besetzung der Krim stellte für die russischen Streitkräfte eine Art „Spaziergang“ dar. Sie trafen dort auf keinen nennenswerten Widerstand. Nun führt aber Russland seit zwei Jahren einen Angriffskrieg gegen seinen westlichen Nachbaren, den man in Russland als „slawisches Brudervolk“ bezeichnet, und der allein auf russischer Seite nach Meinung vieler Militärexperten bereits mehr als 300.000 getötete und schwer verwundete Soldaten gefordert hat.

Wie sah die Einstellung Nawalnys zur Ukraine aus? Sie unterschied sich zunächst wesentlich von derjenigen Boris Nemzows aus. Der letztere verurteilte bekanntlich mit äußerster Schärfe die im März 2014 erfolgte Krim-Annexion. Nawalny hingegen war 2014 der Meinung, dass die Krim durchaus der Russischen Föderation angegliedert werden sollte, allerdings nach einem erneuten „authentischen“ Referendum. Allmählich rückte allerdings Nawalny von dieser Position ab und sprach sich für die territoriale Integrität der Ukraine aus. Gegen den am 24. Februar 2022 begonnenen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine hat er sich bereits aus der Haft mehrmals mit äußerster Schärfe ausgesprochen.

Aus der Sicht mancher Beobachter wird das Regime auch den Tod Nawalnys unbeschadet überstehen, da es die eingeschüchterte und weitgehend entmündigte Gesellschaft gänzlich kontrolliere und im Stande sei, jede oppositionelle Regung im Keim zu ersticken. Dabei darf man nicht vergessen, dass es in der Geschichte von manchen Diktaturen durchaus überraschende Wendungen gegeben hate, auf die sie relativ schlecht vorbereitet waren. Eine solche Wendung fand z.B. im faschistischen Italien statt nach der Ermordung des sozialistischen Abgeordneten Giacomo Matteotti, der zu den radikalsten Gegnern des Faschismus zählte. Die Entrüstung mit der die italienische Öffentlichkeit auf die Ermordung Matteottis (10.6.1924) reagierte, überraschte die italienische Führung. Seit mehr als drei Jahren war Italien an politische Morde gewöhnt. Der faschistische Terror schüchterte die oppositionellen Parteien und die gesamte italienische Öffentlichkeit ein. Mit dem Mord an Matteotti verletzten indes die Faschisten das Rechtsempfinden vieler Italiener in einem solchen Ausmaß, dass die Entrüstung über diese Tat die bisherige Resignation und Angst verdrängte. Der Protest gegen die Ermordung Matteottis war wahrscheinlich auch deshalb so heftig, weil hinter ihm Jahre ohnmächtigen Zurückweichens vor der Gewalt standen. Dieser Protest hatte in gewisser Weise die vorausgegangenen Jahre der Ohnmacht kompensiert.

Unmittelbar nach der Ermordung Matteottis schilderte der italienische Kommunist G. Nicci den plötzlichen Stimmungswandel innerhalb der italienischen Öffentlichkeit:

Die Abneigung gegen den Faschismus, die sich noch bis zum gestrigen Tag im Stillen geäußert hatte, führt jetzt zu öffentlichen Kundgebungen…Die verschiedenen Gruppen der Opposition führten jetzt eine Sprache, die sie bis vor wenigen Tagen nicht zu führen gewagt hätten. Man muss sich fragen, ob wir nicht den klassischen Tropfen vor uns haben, der das Gefäß zum Überlaufen bringt.

Wird der Tod Alexej Nawalnys auch in Russland zu einer Art „Matteotti-Effekt führen? Die Zukunft wird es zeigen.

Der Prof. em. für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der Katholischen Universität Eichstätt-Ingolstadt wurde 1947 in Sverdlovsk (heute Ekaterinburg) geboren. Er studierte in Jerusalem und München. Von 1989 bis 1995 war er stellvertretender Leiter der Osteuropa-Redaktion der Deutschen Welle und zugleich Privatdozent und apl. Professor an der Universität Köln. Bis 2012 war er Inhaber des Lehrstuhls für Mittel- und Osteuropäische Zeitgeschichte an der KU Eichstätt-Ingolstadt. Er ist Geschäftsführender Herausgeber der Zeitschrift Forum für osteuropäische Ideen- und Zeitgeschichte.

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Die „verstorbene Hoffnung“ – zum Tod von Alexej Nawalny

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19.02.2024

Den Tod eines des unbeugsamen russischen Regimekritikers Boris Nemzow infolge eines heimtückischen Attentats vom 27. Februar 2015 hat das Putin-Regime beinahe unbeschadet überstanden. Wird auch der Tod Alexej Nawalnys keine gravierenden Folgen für das herrschende Establishment in Russland nach sich ziehen?

Der Tod Alexej Nawalnys in einer Strafkolonie im unwirtlichen Norden Russlands erschütterte sowohl die Weltöffentlichkeit als auch unzählige russische Anhänger dieses unbeugsamen Kremlkritikers: „Heute ist die Hoffnung gestorben. Wir alle haben sie getötet“ – diese Worte konnte man kurz nach dem Tod Nawalnys in den russischen sozialen Medien lesen. Und ein anderer Landsmann Nawalnys fügte hinzu:

Nawalny starb, weil wir seiner nicht würdig waren.

In diesen Worten spiegeln sich die Ohnmacht und die Hoffnungslosigkeit der russischen Regimekritiker wider. Der Kreml-Diktator scheint sein Ziel erreicht zu haben. Die im Lande noch verbliebenen entschlossensten Regimegegner sind entweder inhaftiert (Sergej Kara-Mursa, Ilja Jaschin und viele andere) oder brutalen Repressalien ausgesetzt wie z.B. die Mitglieder des vom Regime verbotenen Gesellschaft „Memorial“.

Da die Putinsche Diktatur nach der „Zeitenwende“ vom 24. Februar 2022 einen totalitären Charakter annahm, versucht sie, ähnlich wie alle anderen totalitären Regime der Moderne die Gesellschaft gänzlich zu atomisieren und alle organisatorischen Verbindungen, die vom Staat nicht kontrolliert sind, zu zerschlagen. Diese Taktik prangerte Nawalny bereits im Jahre 2021 in einer seiner Gerichtsreden an:

Das ist das Wichtigste, was dieser Machtapparat, was unser ganzes System (den Regimekritikern) sagen will ‚Du bist allein. Du bist ein Einzelgänger‘. Zuerst Angst einjagen und dann zeigen, dass du allein bist…Ja, die Sache mit der Einsamkeit ist sehr wichtig.

Noch vor drei Jahren schienen sich die Dinge ganz anders zu verhalten. Damals (Ende Januar 2021) fanden landesweite Proteste gegen die willkürliche Inhaftierung Nawalnys statt, der, trotz vieler Warnungen, sich dazu entschlossen hatte, nach Russland zurückzukehren – dies ungeachtet der Tatsache, dass einige Monate zuvor (im August 2020) dort ein Versuch stattgefunden hatte, ihn mit dem Gift „Nowitschok“ zu ermorden.

Diese Proteste, die an die Massenproteste gegen die manipulierten Duma-Wahlen vom Dezember 2011 erinnerten, stimmten einige russische Regimekritiker sehr hoffnungsvoll:

„Wir leben jetzt in einem anderen Land“, schrieb Ende Januar 2021 einer der prominentesten Oppositionspolitiker, Leonid Gosman, in der regimekritischen Zeitung „Nowaja gaseta“, als er über die Folgen der Massenkundgebungen der Nawalny-Anhänger reflektierte. Der Leiter des regimekritischen Meinungsforschungsinstituts „Lewada-Zentrum“, Lew Gudkow, war hingegen skeptischer.........

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