Andreas Babler, der Bürgermeister von Traiskirchen, der Chancen hat, zum Vorsitzenden der SPÖ gewählt zu werden, sorgte für einige Irritationen, als er binnen weniger Stunden bekannte, Marxist und kein Marxist zu sein. Dieses Schwanken ist umso erstaunlicher, als es weder besonders mutig noch besonders verwerflich ist, sich zu dem deutschen Philosophen und Ökonomen zu bekennen.
Sieht man für einen Moment davon ab, dass im Namen von Marx zahlreiche Verbrechen begangen wurden, ließe sich die Selbstbezeichnung "Marxist" analog zu Wortbildungen wie "Hegelianer", "Kantianer", "Freudianer" oder "Darwinist" verstehen. Es geht dabei um eine grundsätzliche philosophische oder wissenschaftliche Position, der Name dient als Abkürzung für eine prinzipielle geistige Ausrichtung, ohne dass damit eine sklavische Bindung und dogmatische Auslegung gemeint sein muss. Ein Kantianer zum Beispiel kann von der Bedeutung und Stringenz des kategorischen Imperativs überzeugt sein, ohne deshalb kritische Einwände und subtile Weiterentwicklungen zu ignorieren.
Als Marxist könnte man sich dann bezeichnen, wenn man die Auffassung teilt, dass, im Gegensatz zu feudalen Ordnungen, unsere Gesellschaft durch die Dynamik des Kapitals, das nach Verwertung, Expansion und Vermehrung drängt, bestimmt ist. Motor dieser Entwicklung ist allein die menschliche Arbeitskraft, die imstande ist, mehr Wert zu produzieren, als sie selbst kostet. Ausbeutung war für Marx deshalb keine moralische, sondern eine ökonomische Kategorie, gieriges Profitstreben kein individuelles Laster, sondern eine Systemnotwendigkeit. Marxist ist, wer davon ausgeht, dass die wirtschaftlichen und technischen Rahmenbedingungen unser Denken, Fühlen und Handeln bestimmen, nicht Ideen und Werte.
Für einen modernen Marxisten gäbe es eine Reihe interessanter Fragen, über die nachzudenken sich lohnte. Ist die menschliche Arbeitskraft tatsächlich die einzige Quelle des gesellschaftlichen Reichtums? Widerspricht dies nicht unseren Erfahrungen mit Automatisierung und Digitalisierung? Müssten wir unser - nicht zuletzt von Marx geprägtes - Konzept von produktiver Arbeit ändern, wenn diese kein Privileg des Menschen mehr wäre? Und deutet sich hier nicht ein epochaler Wandel an, der von unserem Bildungsbegriff bis zum Steuersystem nichts unberührt ließe?
Marx untersuchte wie wenige die Logik gesellschaftlicher Veränderungen. Diese sind für ihn nicht in erster Linie Konsequenz eines Strebens nach mehr Gerechtigkeit oder Ausdruck einer fortschrittlichen Moral, sondern Resultat des zunehmenden Widerspruchs zwischen verhärteten Eigentums- bzw. Rechtsverhältnissen und der Erschließung neuer Quellen und Formen der Produktivität. Aktuell können wir beobachten, wie die KI unser Verständnis von Urheberrecht und Urheberschaft, von Eigentum und Verfügungsgewalt auf den Kopf stellt. Marxisten könnten diese Prozesse in Hinblick auf ihre soziale Sprengkraft analysieren und nach angemessenen Strategien suchen. Digitaler Fatalismus ist ja nur eine Antwort.
Hätte Andreas Babler mit Armin Wolf über solche Themen diskutiert, hätte er sein Bekenntnis zu Marx nicht verschämt zurücknehmen müssen. Allerdings: Marx wollte selbst nicht bei der Theorie stehenbleiben: "Die Philosophen haben die Welt nur verschieden interpretiert, es kömmt darauf an, sie zu verändern" - so lautet eine seiner bekanntesten Thesen. Der scharfsinnige Skeptiker Odo Marquard hatte dem entgegengehalten: "Die Geschichtsphilosophen haben die Welt nur verschieden verändert; es kömmt darauf an, sie zu verschonen." Welcher dieser Zuspitzungen man angesichts der verschärften ökologischen Krise zustimmen sollte - darüber zu debattieren wird am Parteitag der SPÖ wohl keine Zeit bleiben.
Ich bin Marxist
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04.06.2023
Andreas Babler, der Bürgermeister von Traiskirchen, der Chancen hat, zum Vorsitzenden der SPÖ gewählt zu werden, sorgte für einige Irritationen, als er binnen weniger Stunden bekannte, Marxist und kein Marxist zu sein. Dieses Schwanken ist umso erstaunlicher, als es weder besonders mutig noch besonders verwerflich ist, sich zu dem deutschen Philosophen und Ökonomen zu bekennen.
Sieht man für einen Moment davon ab, dass im Namen von Marx zahlreiche Verbrechen begangen wurden, ließe sich die Selbstbezeichnung "Marxist" analog zu Wortbildungen wie "Hegelianer", "Kantianer", "Freudianer" oder "Darwinist" verstehen. Es geht dabei um eine grundsätzliche philosophische oder wissenschaftliche Position, der Name dient als Abkürzung für eine prinzipielle geistige Ausrichtung, ohne dass damit eine sklavische Bindung und dogmatische Auslegung gemeint sein muss. Ein Kantianer zum Beispiel kann von der Bedeutung und Stringenz des........
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