Ein Schuljahr geht zu Ende. Das bedeutet nicht nur für die Schüler lange Ferien, sondern auch ein Aufatmen der Bildungspolitik, die wenigstens für einige Wochen nicht mehr die Kraft aufbringen muss, die Augen vor dem zu verschließen, was sie selbst angerichtet hat. Die Nachrichten der letzten Wochen waren alles andere als beruhigend. Was aber warum schiefläuft - das wollen wir gar nicht so genau wissen.

Sowohl in Deutschland als auch in Österreich zeigen Volksschüler gravierende Schwächen beim Beherrschen der grundlegenden Kulturtechniken. Vor allem Defizite beim Lesen sind unübersehbar. Sofort ertönt die bekannte Klage, dass es an veralteten Methoden liegen müsse. Diese Ausrede ist so billig wie unehrlich. Experimentiert wird genug, aber die entscheidenden Fragen dürfen nicht gestellt werden: Welche Relevanz hat die durch Migrationsbewegungen veränderte soziale und kulturelle Zusammensetzung für die Lernfortschritte? Wie verhängnisvoll ist der Einsatz digitaler Medien? Führen die Kompetenztrainings womöglich in eine Sackgasse, weil sie erst gar keine Lust am Lesen aufkommen lassen? Und wie wirken sich zynische Sparmaßnahmen, eine ausufernde Bürokratisierung und überflüssige Evaluierungen tatsächlich aus?

Oder: Es droht ein eklatanter Lehrermangel, auch an den AHS. Die mit KI ausgestatteten Lehrroboter haben ihren Siegeszug an den Schulen noch nicht angetreten, es fehlt an Menschen. Dass wenige Dinge so leicht zu berechnen sind wie Pensionierungen, schützt nicht davor, so zu tun, als wäre man einer überraschenden Situation hilflos ausgeliefert. Um das Schlimmste zu verhindern, wird der Lehrberuf scheinheilig beworben, werden Quereinsteiger gefördert und die Verkürzung der Lehramtsausbildung verkündet. Zwar wird damit alles konterkariert, was man ohne Not aus blindem Reformeifer durchgesetzt hat, doch das ist den Verantwortlichen kein Stirnrunzeln wert.

Die Universitäten behandelten das Lehramt immer als Studium zweiter Klasse. Damit beginnt die Geringschätzung dieses Berufes, die sich in der gesellschaftlichen Bewertung fortsetzt. Die Umstellung der Lehramtsstudien auf das Bologna-konforme BA/MA-System und die aufgezwungene Kooperation zwischen Unis und Pädagogischen Hochschulen beseitigten diesen Missstand nicht, sondern brachten einen administrativen Mehraufwand, eine unproduktive Verlängerung der Ausbildungszeiten und Qualitätsverluste mit sich. Warnungen wurden ignoriert, die Universitäten spielten achselzuckend mit. Jetzt bricht Panik aus, und es wird eifrig zurückgerudert - auf Kosten der Betroffenen.

All das ist nicht ohne Ironie. Angeblich hatte die notwendige Professionalisierung des Lehrberufs diese Reformen erfordert. Ohne pädagogische, didaktische, psychologische und kommunikative Kompetenzen könne niemand unterrichten. Der Erwerb dieser anspruchsvollen Fähigkeiten brauche eben seine Zeit. Und nun lockt man unbedarfte Enthusiasten, die einen Schnupperkurs belegt haben, in die Schulen und schwärmt von deren innovativen Potenzialen.

Angesichts solcher Volten des pädagogischen Zeitgeistes könnte man fast auf ketzerische Gedanken kommen. Wie wäre es, generell die Lehramtsstudien zu sistieren und einfach Menschen mit einer gediegenen fachwissenschaftlichen Ausbildung und einer gewissen Lebens- und Berufserfahrung nach einer kurzen pädagogisch-didaktischen Einführungsphase in den Unterricht zu schicken? Aber das hieße, sich einzugestehen, dass man mit vielem, was man für unabdingbar hielt, falsch gelegen war. Da üben wir uns doch lieber in der Kunst des Selbstbetrugs, damit einem fröhlichen Schulbeginn im Herbst nichts im Wege steht.

QOSHE - Die Kunst des Selbstbetrugs - Konrad Paul Liessmann
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Die Kunst des Selbstbetrugs

7 8
18.06.2023

Ein Schuljahr geht zu Ende. Das bedeutet nicht nur für die Schüler lange Ferien, sondern auch ein Aufatmen der Bildungspolitik, die wenigstens für einige Wochen nicht mehr die Kraft aufbringen muss, die Augen vor dem zu verschließen, was sie selbst angerichtet hat. Die Nachrichten der letzten Wochen waren alles andere als beruhigend. Was aber warum schiefläuft - das wollen wir gar nicht so genau wissen.

Sowohl in Deutschland als auch in Österreich zeigen Volksschüler gravierende Schwächen beim Beherrschen der grundlegenden Kulturtechniken. Vor allem Defizite beim Lesen sind unübersehbar. Sofort ertönt die bekannte Klage, dass es an veralteten Methoden liegen müsse. Diese Ausrede ist so billig wie unehrlich. Experimentiert wird genug, aber die entscheidenden Fragen dürfen nicht gestellt werden: Welche Relevanz hat die durch Migrationsbewegungen veränderte soziale und kulturelle........

© Wiener Zeitung


Get it on Google Play