Nur die Gedanken lassen sich nicht durchleuchten

Es war eine Revolution. Am 8. November 1895 entdeckte der deutsche Physiker Wilhelm Conrad Röntgen ein Licht, das das Körperinnere sichtbar macht. Elektromagnetische Wellen, die das freie Auge nicht wahrnimmt, durchdringen Materie, wie etwa die Haut, und zeigen die Knochen wie in einem Schattentheater. Damit konnte man in den Körper schauen, ohne ihn aufzuschneiden.

Zunächst aber führte der Zufall Regie. Bei einem Experiment mit Strahlen in einer luftleeren Glasröhre hatte der deutsche Physiker ein unerwartetes Phänomen beobachtet. Obwohl die Röhre von außen abgedunkelt war, bildete sich eine schwarze Linie auf einem lichtempfindlichen Blatt Papier, das in der Nähe lag. Es war aber kein Licht zu sehen, das aus der Röhre austrat. Die rätselhafte Strahlung nannte Röntgen zunächst „X-Strahlen“, weil er nicht wusste, woraus sie bestand. Er erforschte sie in den kommenden Wochen, indem er alle möglichen Gegenstände durchleuchtete und schließlich rauch die linke Hand seiner Frau. Bertha Röntgen musste 20 bis 30 Minuten stillsitzen, bis die Aufnahme, auf der ihre Knochen und ihr Ehering deutlich zu erkennen sind, fertig war. Das Experiment markierte die Geburtsstunde der bildgebenden Diagnostik.

Als Röntgen, Professor für Physik an der Universität Würzburg, die Publikation im vollbesetzten Hörsaal seiner Hochschule präsentierte, meinte die Fachwelt, er habe den Verstand verloren. Er informierte daher seinen Studienkollegen, den Wiener Physiker Franz Exner, von seiner Entdeckung. Durch Kontakte der Wiener Wissenschaftler zur Presse ging die Geschichte der wundersamen Strahlen von hier um die Welt. In der Folge entstand in Wien eine Keimzelle der Radiologie. Schon wenig später konnte der Pionier Guido Holzknecht Diagnosen mit Hilfe der neuen Röntgenmethode am Wiener Allgemeinen Krankenhaus........

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