Branko Milanovic: „Europa hat seine Blütezeit überschritten“ |
trend: Sie forschen seit Jahrzehnten über Ungleichheit und deren wirtschaftliche, gesellschaftliche und politische Folgen. In den USA schreiben die Tech-Gurus neue Milliardenrekorde. Hat die Kluft zwischen Arm und Reich seit der Jahrtausendwende generell zugenommen?
Branko Milanovic: Das ist eine knifflige Frage. Wir sprechen seit mindestens zehn Jahren immer mehr über Ungleichheit. Der große Anstieg in den westlichen Ländern, vor allem in Europa und den USA, fand aber tatsächlich bereits in den 1980er-Jahren unter Ronald Reagan und George Bush statt und setzte sich dann unter Bill Clinton fort. Seit rund 15 Jahren ist diese Ungleichheit in den USA, gemessen am verfügbaren Einkommen, im Großen und Ganzen stabil. Etwas anderes ist die Vermögensungleichheit. Hier erregen die Summen, über die Elon Musk oder Jeff Bezos an Börsenwerten verfügen, zuletzt immer wieder besondere Aufmerksamkeit. Auch wenn das nicht mein unmittelbares Forschungsthema ist, die Vermögensungleichheit hat insbesondere ganz oben zugenommen. Die Ungleichheit bei Löhnen, Zinseinkommen, Einkünften aus selbstständiger Tätigkeit und einschließlich staatlicher Transfers ist in den meisten Ländern seit 15 Jahren nicht wirklich gestiegen. Wenn man sich zum Beispiel Österreich anschaut, dann ist auch hier in den letzten zehn oder 15 Jahren die Einkommensungleichheit nicht gestiegen.
Wie kommt es dann dazu, dass die Debatte über die ungleiche Einkommensverteilung und die Forderungen nach Reichensteuern zugenommen haben?
Das liegt daran, dass die Wahrnehmung von Ungleichheit und die Art der Abneigung gegen Ungleichheit zugenommen haben. Es wurde mehr darüber geschrieben und geredet. Das prägt die Wahrnehmung der Menschen, auch wenn, sieht man sich die Zahlen an, die Ungleichheit nicht zugenommen hat. Als die Ungleichheit vor bald einem halben Jahrhundert zunahm, war das noch kein großes Thema.
Abseits von Europa und den USA ist weltweit betrachtet die Ungleichheit sogar zurückgegangen, sagen Ihre Forschungsergebnisse. Warum?
Die Ungleichheit in der Welt ist vor allem deshalb zurückgegangen, weil China gewachsen ist. China war anfangs sehr arm und ein Land mit niedrigen Einkommen. Jetzt ist es ein Land mit höheren Einkommen, und das hat auch die globale Ungleichheit verringert. Aber nicht nur China, sondern auch Indien, Thailand, Vietnam und viele andere asiatische Staaten wachsen mehr als die reichen Länder und sorgen so für weniger globale Ungleichheit. Nun gibt es auch hier eine interessante Wendung: China ist mittlerweile so reich geworden, dass das weitere schnelle Wachstum Chinas nicht länger die globale Ungleichheit verringert. Denn dadurch ist eine größere Distanz zwischen China und den armen afrikanischen Ländern entstanden. Auch weil die großen afrikanischen Länder Ägypten, Sudan, Nigeria oder Kongo allesamt mehr als 100 Millionen Menschen haben.
Branko Milanovic, 72, lehrt und forscht seit seinem Studium der Ökonomie in Belgrad über soziale Ungleichheit. Er arbeitete u. a. zwei Jahrzehnte, zuletzt als Chefökonom, für die Weltbank. Danach erhielt er Einladungen zu Gastprofessuren an mehrere US-Universitäten. Seit 2024 ist Milanovic Dozent am City University of New York Graduate Center. Diese Woche erscheint sein neuestes Buch: „The Great Global Transformation. National Market Liberalism in a........