Finden Sie es eigentlich schwieriger, Söhne zu erziehen als Töchter?» Diese Frage stellte ich in einem Interview Hollywood-Star und Feministin Geena Davis, die sowohl eine Tochter als auch zwei Söhne im Teenager-Alter hat. Nicht nur aus beruflichem, sondern auch aus privatem Interesse. Während man Mädchen einimpft, dass sie jederzeit Nein sagen, auch mal laut sein und auch mal Ellenbogen ausfahren dürfen – was soll man den Buben da sagen? «Heul doch mal so richtig, das ist nicht unmännlich. Und behalt im Zweifel deine Hände bei dir, sonst gibts Ärger»?

«Nein, warum?», sagte Geena Davis auf meine Frage. «Ich halte wenig von Klischees und viel von gesundem Menschenverstand.» Wie recht sie doch hat. Wenn wir unseren Kindern – egal, welches Geschlecht sie haben – beibringen würden, Situationen logisch zu beurteilen, statt sie klischeemässig über einen Kamm zu scheren, wäre vieles nämlich gar nicht so kompliziert.

So lese ich dieser Tage mal wieder, wie sich Herren darüber aufregen, dass man Damen keine Komplimente mehr machen darf. Und die Damenwelt reagiert mit Zuspruch oder dem Gegenteil. Meinem Sohn, der auch schon Verunsicherung in dieser Sache geäussert hat, antworte ich nun hier stellvertretend für alle Männer, die Mühe mit Komplimenten haben: Lieber Sohn, es kommt – wie fast immer im Leben – auf die Situation an. Wenn du ein Mädchen am Bahnhof abholst, sie steigt aus dem Zug und du sagst ihr, dass sie toll aussieht, ist das grossartig. Wenn sie in dieser Situation statt «Du siehst toll aus» versteht «Ich will sofort Sex mit dir» oder «Du bist zwar strohblöd, siehst aber gut aus», renn weg, denn dann hat sie die Sache mit der Gleichberechtigung grundsätzlich falsch verstanden, und du wirst nie etwas sagen können, das in ihren Augen okay ist.

«Stell dir vor, du hast brillant referiert, und von 50 Reaktionen sagen 49, deine Frisur ist cool»

Wenn sie nun aber gerade einen Speech zum Thema Neurochirurgie gehalten hat und von der Bühne kommt, und du sagst ihr, wie toll sie aussieht, ist das eher suboptimal. Denn damit sagst du ihr tatsächlich «Es wär mir auch egal, wenn du strohblöd wärst, Hauptsache, du siehst gut aus.» Zum Vergleich: Wenn du mit einem neuen Pulli nach Hause kommst, und ich sage «cooler Pulli», ist das super, oder? Wenn du mit einer 5,5 in Mathe nach Hause kommst, und ich sage «cooler Pulli» eher weniger.

Es ist nichts falsch daran, einer Frau ein ehrlich gemeintes Kompliment zu machen. Es ist auch nichts falsch daran, sie mal ins Kino oder auf einen Drink einzuladen. Umgekehrt im Übrigen auch nicht. Falsch ist alles, was du für dich selbst auch nicht haben willst. Stell dir vor, eine Gruppe angetrunkener Mädchen läuft dir auf der Strasse nach und ruft «geiler Arsch». Ich denke, das würdest auch du nicht als nett gemeintes Kompliment auffassen. Stell dir vor, du sitzt bei einem Bewerbungsgespräch, deine potenzielle Chefin starrt dir zwischen die Beine und sagt «schöne Hose». Auch das ist kein nett gemeintes Kompliment, oder? Stell dir vor, du hast auf TikTok inhaltlich brillant über Trading referiert, und von 50 Reaktionen die du bekommst, sagen dir 49, dass du eine coole Frisur hast. Ein Kompliment? Entscheide du.

QOSHE - Die Sache mit den Komplimenten - Gülsha Adilji
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Die Sache mit den Komplimenten

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13.04.2024

Finden Sie es eigentlich schwieriger, Söhne zu erziehen als Töchter?» Diese Frage stellte ich in einem Interview Hollywood-Star und Feministin Geena Davis, die sowohl eine Tochter als auch zwei Söhne im Teenager-Alter hat. Nicht nur aus beruflichem, sondern auch aus privatem Interesse. Während man Mädchen einimpft, dass sie jederzeit Nein sagen, auch mal laut sein und auch mal Ellenbogen ausfahren dürfen – was soll man den Buben da sagen? «Heul doch mal so richtig, das ist nicht unmännlich. Und behalt im Zweifel deine Hände bei dir, sonst gibts Ärger»?

«Nein, warum?», sagte Geena Davis auf meine Frage. «Ich halte wenig von Klischees und viel von gesundem Menschenverstand.» Wie recht sie doch hat. Wenn wir unseren Kindern – egal, welches Geschlecht sie haben – beibringen........

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