Seit über einem Jahr ist der Ukrainekrieg das grosse Studienobjekt von Militäranalytikern und Streitkräfteplanern in Europa, mit der Frage nach den Lehren als zentralem Motiv. Die Kriegsparteien selbst ziehen ihre Lehren jeweils sofort und laufend, was sich in wechselseitigen Innovationen und Adaptionen äussert: Wenn sich der Gegner erfolgreich anpasst, können sich Lehren auch als voreilig erweisen. Dies gilt im Ukrainekrieg etwa für Kampfdrohnen: Verbesserte Störsender lassen sie derzeit täglich zu Hunderten abstürzen. Erst der Kriegsausgang wird es erlauben, abschliessende Lehren zur Überlegenheit von Systemen oder Einsatzdoktrinen zu ziehen.
Mit den sicherheitspolitischen Lehren verhält es sich anders. Zumindest einige davon könnten durchaus schon jetzt gezogen werden. Für die Schweiz drängen sich namentlich fünf Erkenntnisse auf, die sich auf die Voraussetzungen für eine erfolgversprechende Landesverteidigung, auf die Perspektiven einer Verteidigungskooperation mit der Nato und auf die militärische Bedrohung beziehen.
Die Ukraine hat seit Kriegsbeginn spektakuläre militärische Erfolge erzielt und rund 10% ihres Territoriums zurückerobert. Dass ihr Widerstand nicht frühzeitig kollabiert ist, hat mit einer Kombination von Faktoren zu tun, bei denen sich die ukrainische der russischen Seite als überlegen erwies. Dazu zählen eine charismatische, medial präsente Führung, eine hohe Opferbereitschaft der Bevölkerung, im Bewusstsein einer nationalen Schicksalsstunde, sowie eine «Gesamtverteidigungsorganisation», die Millionen Bürger in vor- und ausserdienstliche militärische Ausbildung einbindet. Es ist müssig zu spekulieren, ob sich auch im postmodernen Westeuropa in einer analogen Situation ein vergleichbarer Patriotismus einstellen würde. Klar dürfte jedoch sein, dass weder die Organisation noch die Geisteshaltung bestehen und nur langfristig aufgebaut werden könnten, wenn überhaupt.
Im Jahr 1994 verzichtete Kiew auf Atomwaffen und erhielt im Gegenzug von Moskau die heute geradezu zynisch anmutende Garantie, dass die staatliche Souveränität anerkannt werde. Hätte die Ukraine ein nukleares Abschreckungspotenzial behalten, wäre wohl schon die russische Besetzung der Krim und des Donbass 2014 ausgeblieben. Auch die erweiterte nukleare Abschreckung der USA für ihre Verbündeten beeindruckt den Kreml offensichtlich, der trotz aller üblen Rhetorik davor zurückschreckt, Nato-Territorium zu verletzen oder gar Nuklearwaffen einzusetzen.
«Eine autonome Landesverteidigung ist gegen eine militärische Grossmacht aussichtslos.»
Die Schweiz müsste daraus eigentlich folgern, dass es opportun wäre, eine eigene nukleare Abschreckung aufzubauen, oder aber sich eingestehen, dass die nationale Sicherheit – zwar informell, faktisch aber zentral – dem nuklearen Schutzschirm zu verdanken ist, den die USA über grosse Teile Europas gespannt haben. Stattdessen unterstützt die Schweiz eine Kampagne, die Atomwaffen weltweit abschaffen will – ein Sinnbild für den frivolen Umgang mit ihrer Sicherheit.
Wer nichts von eigenen Nuklearwaffen oder einem externen Nuklearschirm wissen will, sollte sich aber einer dritten Einsicht nicht verschliessen, nämlich, dass eine enge Verteidigungskooperation mit der Nato schon längst geboten wäre.
Die konventionelle Verteidigung der Schweiz soll in Autonomie geschehen, aus Rücksicht auf den Neutralitätsstatus, der sich im obligaten Vorbehalt bei allen Aktivitäten in der «Friedenspartnerschaft» (PfP) mit der Nato niederschlägt.
Die Erfolge der ukrainischen Verteidigung gegen die russische Invasion seit Februar 2022 waren nur möglich, weil die Ukraine schon ab 2014 wesentlich von den USA aufgerüstet wurde, weil sie sich strukturell und doktrinell an Nato-Standards angepasst und weil sie Aufklärungs- und Kommunikationskanäle hergestellt hatte, die ihr nun ein Lagebild in Echtzeit ermöglichen. Diese Vorkehrungen wiederum bereiteten den Boden für die seit Kriegsbeginn vervielfachte Militärhilfe aus dem Westen.
Wenn die Schweiz also das Szenario eines konventionellen Verteidigungskrieges weiterhin nicht ausschliessen und sich darin behaupten will, liegt es nahe, einen Schulterschluss mit der Nato nach ukrainischem Vorbild einzugehen. Dies würde langfristige Vorbereitung bedeuten und nicht Improvisation ab dem Tag, wo die Überforderung der Armee offensichtlich wird.
Die Schweizer Armee soll in den nächsten Jahren modernisiert werden und ihre Zusammenarbeit mit der Nato auf den Verteidigungsauftrag ausdehnen. Diesem erklärten Ziel steht jedoch die Neutralität im Weg. Kiew strebt aufgrund der langjährigen Erfahrungen mit seinem Nachbarn weder einen neutralen Status noch eine autonome Landesverteidigung an, zwei Maximen, an denen die Schweiz eisern festhält. Neutralität, so viel ist inzwischen klar geworden, bedeutet nicht nur, dass keine Schweizer Waffen an die Ukraine weitergegeben werden dürfen, sondern auch, dass selbst Nato-Staaten im Kriegsfall keine militärische Hilfe aus der Schweiz zu erwarten haben.
Diese umfassende militärische Desolidarisierung dürfte der zentrale Grund sein, weshalb die Nato gemeinsame Verteidigungsvorbereitungen mit einem Land ablehnt, das darauf pocht, sich jederzeit daraus zurückzuziehen, wenn es brenzlig wird. Die kalte Schulter von Brüssel gegenüber schweizerischen Avancen hat auch damit zu tun, dass eine Milizarmee Berufsarmeen nicht viel zu bieten hat. Denn WK-Formationen sind ungeeignet, in komplexen Gefechtsübungen mitzuhalten, die professionelle und zertifizierte Verbände der Nato miteinander durchführen.
Hinzu kommt, dass die Schweiz 0,7% ihres Bruttoinlandprodukts für Verteidigung ausgibt und diesen Anteil – wenn es läuft, wie geplant – erst bis 2035 auf 1% des BIP erhöhen wird. Dies ist nicht geeignet, Sympathien zu wecken bei der Nato, wo seit 2014 das 2%-Ziel gilt, das manche schon lange übertreffen, andere absehbar erreichen werden.
Zu den sicherheitspolitischen Lehren aus dem Ukrainekrieg zählt schliesslich die Einsicht in die Schwäche der russischen Armee. Diese hat die hochgesteckten Erwartungen der Fachwelt an operative und taktische Kompetenz massiv enttäuscht. Sie ist offensichtlich unfähig, raumgreifende Operationen durchzuführen.
Nach fünfzehn Monaten Krieg steht sie ganze 100 km tief in der Ukraine und führt, schwer abgenützt, einen Abwehrkampf. Wie sollen die russischen Landstreitkräfte jemals nach Mitteleuropa vorstossen können, durch Nato-Bündnisgebiet hindurch? Die Fantasie wird in einem Masse strapaziert, dass hierzulande auf Vorbereitungen des Einsatzes von Bodentruppen gegen die russische Armee im Grunde getrost verzichtet werden könnte. Wenn die Schweizer Armee auch terrestrisch modernisiert werden soll, mag dies innenpolitisch angezeigt sein und ein Solidaritätssignal an das Ausland aussenden, quasi dem Eindruck des «Lochs im Donut» entgegenwirken – eine Notwendigkeit im Hinblick auf realistische Einsatzszenarien ist es nicht.
Die Lehren aus dem Ukrainekrieg für die Schweiz liegen auf der Hand, sie sind politisch aber ungeniessbar: Eine autonome Landesverteidigung ist gegen eine militärische Grossmacht aussichtslos. Sie wäre nur mit eigenen Atomwaffen oder vervielfachten Investitionen in eine konventionelle Verteidigung zu erzielen. Die Alternative ist die Einbindung in die Nato, die aber schon wegen der dauernden Neutralität ausscheidet. Diese kann nicht abgelegt werden, weil eine grosse Mehrheit sie als bewährten Rahmen für die nationale Sicherheit betrachtet, trotz unklarer historischer Evidenz und unbeeindruckt von der Abkehr Schwedens und Finnlands von dieser Maxime.
Sicherheitspolitischer Handlungszwang besteht für die Schweiz gleichwohl nicht, dank ihrer geografischen Lage: Sie dürfte nie in den Wirkungsraum der russischen Armee gelangen und kann sich eine Minimalsolidarität gegenüber ihren De-facto-Schutzmächten leisten. Die Rechnung dafür könnte in nichtmilitärischer Münze zu bezahlen sein.
Mauro Mantovani ist Dozent Strategische Studien, Militärakademie an der ETH Zürich.
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