Idyllischer kann eine Kernkraftanlage kaum liegen. Auf der Insel Olkiluoto am Bottnischen Meerbusen produziert Finnland seit Mitte April mit drei Werken ungefähr 45% der Elektrizität des nordischen Landes. Auf einer Fläche von 9 km²: Für die gleiche Menge Strom wären 230 km² Solar- und über 1000 km² Windenergieanlagen nötig.
Das neue Werk lieferte statt stabilen Strom zunächst freilich negative Schlagzeilen in Serie. Olkiluoto 3 steht auch für eine immense Kostenüberschreitung um den Faktor drei bis vier – der französische Zulieferer Areva musste deswegen durch den Staat aufgefangen werden – und eine Verzögerung der Inbetriebnahme um dreizehn Jahre.
Trotzdem sind das Werk und mithin die Energiestrategie in Finnland deutlich weniger umstritten als in der Schweiz. Gemäss neusten Umfragen vom vergangenen Dezember sind nur noch 6% der Bevölkerung von Suomi gegen Atomkraft, 83% sind explizit dafür. In der Schweiz ist die Opposition deutlich grösser, Befürworter und Gegner halten sich ungefähr die Waage.
«Hierzulande ist die Diskussion über Atomkraft weitaus stärker ideologisiert und von Furcht geprägt – als helvetische Variante der deutschen Romantik.»
Wasserkraft und Biomasse, namentlich Holz, produzieren weitere 30% des Strombedarfs von Finnland. Mit dem Ausbau der Windkraft und Olkiluoto 3 geht die nationale Netzgesellschaft Fingrid davon aus, dass das Land selbstversorgend wird. Auch geopolitisch von grosser Bedeutung: Finnland ist es gelungen, die Stromimporte aus Russland, noch vor einem Jahrzehnt im Ausmass von 15% des Gesamtbedarfs, zu ersetzen. Die Schweiz hingegen bleibt mit der Energiestrategie 2050 vor allem im Winter von bedeutenden Stromimporten aus den Nachbarländern abhängig. Punkto Versorgungssicherheit schwingt Finnland obenaus.
Nicht nur das: Das nordische Land wird als erstes Land der Welt über eine Lösung für die Lagerung radioaktiver Abfälle verfügen (dieses Problem wurde von der Branche allzu lange vernachlässigt). Kaum 1 km von der Kernkraftanlage entfernt soll Mitte der Zwanzigerjahre ein Endlager entstehen. Substanzielle, mehrheitlich vom Staat getragene Kosten auch hier: etwa 2 Mrd. € nach achtzehn Jahren Bauzeit, plus 900 Mio. für Forschung und Entwicklung.
Am Schluss der Betriebszeit von hundert Jahren werden etwa 6500 t Uran, das Gros schwach- und mittelradioaktiv, in 430 m Tiefe gelagert werden. «We have a solution, which is an example for the whole world», schreibt die Betreibergesellschaft Posiva auf der Homepage. Die Finnen, nicht eben als lautstarke Schwätzer bekannt, sind stolz darauf, gemäss eigener Einschätzung anderen Ländern zehn bis fünfzehn Jahre voraus zu sein. Die Nagra in der Schweiz wird in frühestens dreissig Jahren mit einem Tiefenlager im Zürcher Unterland bereit sein.
Auch was das Klimaschutzziel betrifft: Finnland will nicht 2050 klimaneutral sein, sondern bereits 2035. Sogar Greenpeace Finnland wie auch in der Mehrheit die Grüne Partei – inklusive Junge Grüne – haben ihren Widerstand gegen die stabile Bandenergie liefernde und CO₂-arme Kernkraft aufgegeben. Sie stufen die Gefahren aus dem Klimawandel grösser ein als die Wahrscheinlichkeit eines gravierenden AKW-Unfalls. Der Wandel im Denkansatz begann vor zwei Jahrzehnten, als augenscheinlich wurde, dass der Klimawandel rascher vorangehen würde als gedacht.
Ein Vorbild für die Schweiz? Man wünschte sich in der Energiepolitik zumindest mehr finnisch-kühlen Pragmatismus (der sich auch im wenngleich von Russland aufgenötigten Beitritt zur Nato spiegelt, unter Aufgabe der über hundertjährigen Neutralität). Aber hierzulande ist die Diskussion über Atomkraft weitaus stärker ideologisiert und von viel Misstrauen, ja gar Angst geprägt – als helvetische Variante der deutschen Romantik.
Die grünen Parteien hierzulande, auch die sogenannt liberale, würden sich eher auflösen als ihr kategorisches Nein zur Kernenergie aufgeben. Sie haben sich in eine Ecke verbannt, aus der sie kaum mehr herausfinden. Erfolgreiche Investoren an der Börse dagegen wissen: Man muss sich immer eine Ausgangstür offen halten.
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Energiewende der finnischen Art
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30.05.2023
Idyllischer kann eine Kernkraftanlage kaum liegen. Auf der Insel Olkiluoto am Bottnischen Meerbusen produziert Finnland seit Mitte April mit drei Werken ungefähr 45% der Elektrizität des nordischen Landes. Auf einer Fläche von 9 km²: Für die gleiche Menge Strom wären 230 km² Solar- und über 1000 km² Windenergieanlagen nötig.
Das neue Werk lieferte statt stabilen Strom zunächst freilich negative Schlagzeilen in Serie. Olkiluoto 3 steht auch für eine immense Kostenüberschreitung um den Faktor drei bis vier – der französische Zulieferer Areva musste deswegen durch den Staat aufgefangen werden – und eine Verzögerung der Inbetriebnahme um dreizehn Jahre.
Trotzdem sind das Werk und mithin die Energiestrategie in Finnland deutlich weniger umstritten als in der Schweiz. Gemäss neusten Umfragen vom vergangenen Dezember sind nur noch 6% der Bevölkerung von Suomi gegen Atomkraft, 83% sind explizit dafür. In der Schweiz ist die Opposition deutlich grösser, Befürworter und Gegner halten sich ungefähr die........
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