Reformer oder Dogmatiker? Anmerkungen zum politischen Kurs und zur Entmachtung Nikita Chruschtschows

Vor sechzig Jahren entmachtete die Führung der KPdSU zum ersten Mal in der Geschichte des im Oktober 1917 entstandenen sowjetischen Staates den amtierenden Parteichef. Mit den Ursachen für diesen Vorgang wie auch mit dem politischen Wirken des am 14. Oktober 1964 entmachteten Nikita Chruschtschow befasst sich die folgende Kolumne.

Der Name Nikita Chruschtschows ist untrennbar mit seiner fulminanten Anklagerede gegen seinen Vorgänger Josef Stalin verbunden, die er am 25. Februar 1956 auf einer geschlossenen Sitzung des 20. Parteitages der KPdSU hielt. Die Paradoxie des vor allem durch den 20. Parteitag eingeleiteten Entstalinsierungsprozesses bestand darin, dass es langjährige Gehilfen Stalins waren, die ihn durchführten. Der Sowjetologe Isaac Deutscher schrieb, all diejenigen Kommunisten, die sich am Stalinschen Terror nicht beteiligen wollten, seien von Stalin bereits längst liquidiert worden. Daher sei die gesellschaftlich unerlässliche Aufgabe der Entstalinisierung den Stalinisten zugefallen.

Die Tatsache, dass die höchste Instanz der KPdSU – der Parteitag – die „gottähnliche Gestalt“, die das Wesen des sowjetischen Systems im Verlauf eines Vierteljahrhunderts verkörperte, als einen Massenmörder entlarvte, musste zwangsläufig die Fundamente des Regimes ins Wanken bringen. Die Historiker Dmitrij Aksjonow und Jelena Zubkowa schrieben während der Gorbatschowschen Perestroika Folgendes dazu: Durch den Sturz eines Götzen, der jahrzehntelang die Unfehlbarkeit verkörperte, habe Chruschtschow den Glauben an die Weisheit der höchsten Führung für immer erschüttert.

Die brutale Unterdrückung des Ungarnaufstandes durch die UdSSR im November 1956 führte nicht, wie damals allgemein befürchtet, zu einer Restalinisierung in der Sowjetunion. Diese Befürchtungen schienen sich zunächst zu bestätigen, als Chruschtschow am 17. Januar 1957 bei einem Empfang in der chinesischen Botschaft Stalin vor seinen Kritikern in Schutz nahm. Er bezeichnete Stalin als Vorbild für alle Kommunisten. Es wäre gut, „wenn jeder Kommunist imstande gewesen wäre, so zu kämpfen, wie Stalin dies getan hat“. Stalins Fehler erklärte Chruschtschow durch die Eigentümlichkeiten seines Charakters wie auch durch die Schärfe des Klassenkampfes, der damals im Lande getobt habe.

Ungeachtet seiner zaghaften Versuche, die Wirkung seiner explosiven Rede auf dem 20. Parteitag abzuschwächen, galt Chruschtschow indes vielen Vertretern der „Stalin-Garde“ in der Parteiführung als der Auslöser einer der unheilvollsten Entwicklungen in der Geschichte des Regimes. Die Fortsetzung der Kritik am Stalinismus, die nun untrennbar mit dem Namen von Chruschtschow verbunden war, hielten sie für selbstzerstörerisch.

Die am 18. Juni 1957 begonnene Sitzung des ZK-Präsidiums nahm für Chruschtschow eine äußerst gefährliche Wendung. Sieben von elf Mitgliedern des Gremiums sprachen sich gegen ihn aus. Um einer drohenden Entmachtung zu entgehen, appellierte Chruschtschow an das Zentralkomitee – das offiziell höchste Parteigremium zwischen den Parteikongressen. ZK-Mitglieder aus dem ganzen Land wurden eiligst nach Moskau gerufen.

Auf der am 22. Juni 1957 begonnenen Sondersitzung des Zentralkomitees konnte sich Chruschtschow auf die überwältigende Mehrheit der Delegierten stützen. Die Ankläger aus dem Präsidium verwandelten sich nun in Angeklagte. Das Juniplenum endete mit einem vollständigen Sieg Chruschtschows.

Der Kampf um die Nachfolge Stalins war damit beendet. Er verlief in einer ganz anderen Form als der Kampf um die Nachfolge Lenins. Abgesehen vom Innenminister Lawrentij Berija blieben alle Verlierer dieser Auseinandersetzung am Leben. Die Verlierer des Kampfes um die Nachfolge Lenins (die Mitglieder des Politbüros im Todesjahr Lenins – 1924) ließ Stalin ausnahmslos ermorden. So verfolgten die Nachfolger Stalins im Umgang miteinander einen milderen Kurs. Die Macht der Führung wurde jetzt gewissen Schranken unterworfen, und davon profitierte nicht nur........

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