Droht uns eine Wiederholung der Konstellation von 1914? Die Welt nach der „Zeitenwende“

Der Ausbruch des Ersten Weltkrieges wird sich demnächst zum 110. Mal jähren. Kann sich nun, infolge der „Zeitenwende“ vom 24. Februar 2022, eine vergleichbare Konstellation wiederholen? Einigen Parallelen, aber auch Unterschieden zwischen den beiden Situationen ist diese Kolumne von Leonid Luks gewidmet.

Bereits im März 2014, kurz nach der Putinschen Annexion der Krim, die die bis dahin herrschende internationale Ordnung mit einem Schlag sprengte, wurde in Ost und West über die Gefahr eines neuen Weltkrieges spekuliert. Dies umso mehr, als der Ausbruch des Ersten Weltkrieges sich damals zum 100. Mal jährte. Mit dem am 24. Februar 2022 begonnenen Angriffskrieg gegen die Ukraine erreichte Putins abenteuerlicher Kurs eine neue Dimension. Umso beunruhigender scheinen nun die Parallelen zwischen den jetzigen Entwicklungen und den Ereignissen zu sein, die der Julikrise von 1914 vorausgegangen waren. Nur ist es diesmal nicht Deutschland, das die bestehende internationale Ordnung ins Wanken bringt, sondern Russland.

Zu Beginn des 20. Jahrhunderts war es in erster Linie die immer schärfer werdende deutsch-britische Rivalität, die die Gefahr eines globalen Waffenganges heraufbeschwor. In ihrem Konkurrenzkampf gegen England versuchten viele deutsche Politiker und Publizisten an das Gerechtigkeitsgefühl der Völker zu appellieren. Deutschland wolle im Gegensatz zu England keine Welthegemonie, sondern nur eine Gleichberechtigung, seinen „Platz an der Sonne“, hoben sie hervor. Der englische Historiker Matthew S. Anderson schreibt, man habe in Deutschland das Gefühl gehabt, man müsse seit Generationen Versäumtes nachholen. Als andere Großmächte die Welt unter sich aufteilten, habe sich Deutschland aufgrund seiner Kleinstaaterei in politischer Ohnmacht befunden. Nun wolle es aber auch eine Position in der Welt haben, die seiner tatsächlichen Macht entspräche.

Eine Zeitlang schien der Begriff Weltpolitik die Stimmung der deutschen Mittelschicht und der national gesinnten Presse wiederzugeben“, so der australische Historiker Chistopher Clark: Er „beinhaltete den Ausbruch aus den Zwängen des kontinentalen Bündnissystems, um auf einer größeren Weltbühne zu operieren.

Die deutschen Vorkämpfer gegen die britische Welthegemonie betrachteten sich in gewisser Weise als Wortführer der angeblich von Großbritannien bedrohten Völker. Englands Vorherrschaft in der Welt sei nun zu Ende, schrieb der nationalliberale deutsche Historiker Hans Delbrück zu Beginn des 20. Jahrhunderts. Es nahe jetzt der „englische Erbfolgekrieg“, in dem Deutschland der Hauptgewinner sein würde. Ein anderer deutscher Historiker, Otto Hintze, schrieb etwa zur gleichen Zeit, Deutschlands Mission sei die Emanzipierung der Welt von der englischen Hegemonie.

Die englische Vorherrschaft zur See wurde nun in Deutschland mit der ehemaligen napoleonischen zu Lande gleichgesetzt. Das Ziel Deutschlands sei jetzt, so mehrere deutsche Autoren, die Herstellung eines globalen Gleichgewichts. Um dieses Ziel zu erreichen, müsse Deutschland aber seine Hegemonialstellung auf dem Kontinent entsprechend ausbauen. Der deutsche Historiker Ludwig Dehio weist darauf hin, dass die damaligen Verfechter des weltpolitischen Engagements Deutschlands die Idee des europäischen Gleichgewichts als veraltet ansahen. Diese Idee sei englischen Ursprungs und diene lediglich den englischen Interessen. Man müsse das europäische Gleichgewicht aufheben, um das gesamte europäische Machtpotential gegen die englische Weltherrschaft mobilisieren zu können. In Wirklichkeit habe jedoch niemand von dieser Befreiungsmission Deutschlands etwas wissen wollen, so Dehio weiter. England sei es gelungen, gerade dieses Gleichgewicht, das angeblich den Interessen der Europäer widersprach, gegen Deutschland zu aktvieren. Nicht englische, sondern deutsche Hegemonialbestrebungen habe man in Europa als Bedrohung empfunden.

Bezeichnend für die politische Entwicklung Europas nach etwa 1906/07 war die Tatsache, dass die europäischen Großmächte ihre Rivalität immer stärker von der Weltpolitik auf Europa selbst verlagerten. Die Krisen, die Europa seit 1908 immer wieder erschütterten, hatten in der Regel einen innereuropäischen Charakter. So intensivierte sich z.B. seit 1908 die russisch-österreichische Rivalität auf dem Balkan, die Mitte der 1890er Jahre nachgelassen hatte. Auch der deutsch- französische Konflikt um Elsass-Lothringen verschärfte sich am Vorabend der Ersten Weltkrieges. Einen immer bedrohlicheren Charakter nahm der britisch-deutsche Rüstungswettlauf an, nicht zuletzt durch den rasanten Aufbau der deutschen Flotte verursacht. Im Januar 1907 schlug der einflussreiche Unterstaatssekretär im britischen Außenministerium, Sir Eyre Crowe, vor, Deutschland als eine nach Hegemoie in Europa strebende Macht zu betrachten.

Es gab damals natürlich auch Konflikte, die sich außerhalb Europas........

© Die Kolumnisten