„Höflichkeit“ kann auch verletzen – Teil 2/3 |
Im ersten Text des Dreiteilers zu Höflichkeit sprach ich über die ritualisierten und strukturierenden Formen, die kulturell verschieden sind. Die somit auch nicht „auf natürliche Weise“ entstanden sein können, und auch nicht durch Logik alleine erklärbar. Sie haben nur innerlich eine gewisse Logik, wie sie strukturiert sind und sie spiegeln eine Hierarchie wider, die die Gesellschaft besitzt – ebenso kulturell bestimmt. Aber was, wenn das Wissen über die Höflichkeitsformen die Hierarchie selbst bestimmt? Eine Kolumne von Chris Kaiser
Ich muss als Kind an allen möglichen Strukturen und Regeln interessiert gewesen sein. Unser Leben war stark getaktet: durch den Tagesablauf unserer jeweiligen Pflichten (meine Mutter hatte feste Arbeitszeiten, meine Oma ihren Gang zum Markt als Blumenverkäuferin, ich die Schule), durch den Ablauf des Kirchenjahres mit seinen Festen (wir putzten das ganze Haus durch in den Wochen vor Weihnachten und Ostern, bemalten Eier, backten Kekse usw.), jeden Tag zur selben Zeit die warme Mahlzeit und spät das Abendbrot. In Kindergarten und Schule selbst sowieso. Alles Regeln, alles Struktur. Dazu kam noch eine unausgesprochene Regel, die sich nach und nach in mein Leben als Kind schlich: dass man öffentlich der sozialistischen Staatsdoktrin Ceausescus im Rumänien der 80er nicht widerspricht.
Die Regelmäßigkeit und Regeln waren für mich keine Bedrohung meiner Freiheit, sondern eine Sicherheit, eine Erleichterung, die mir das Kennenlernen der Welt erst in den Portionen ermöglichte, die ich vertrug. Wenn man ein alleinerziehendes Elternteil hat, dann werden Regeln, die von dem bestimmenden Erwachsenen eingehalten werden, von dem Kind als absolut betrachtet. Bitte und Danke müssen meine zweite Natur geworden sein, ohne darüber viel darüber nachzudenken oder sie in Frage zu stellen. Denn ich kann mich erinnern, dass ich einem Laternenpfahl, gegen den ich aus Unachtsamkeit beim Rauslaufen aus dem Haus stieß, ein „Entschuldigung“ hinterherrief. Ich wollte wissen, wer wen zuerst grüßt. Welche Begrüßungsfloskel bei welchen Nachbarn je nach Status aber auch Nationalität (deutsch, ungarisch, rumänisch) richtig war. Es interessierte mich so sehr, da alles seine Ordnung haben musste.
Wenn ich diese Ordnung kannte, dann konnte ich sie anwenden und ich machte dabei nichts falsch. Ganz anders das Gefühl, wenn ich bei meiner Tante eingeladen war, und dort eine ganze Reihe an erwachsenen Personen dabei waren, die ich nur flüchtig kannte, aber vor denen ich einen Heidenrespekt hatte. Denn sie waren elegant gekleidet, benutzten elegant Messer und Gabel beim Essen, sprachen höflich und gesetzt miteinander, als ob alle genau wussten, wer was wann genau wie und in welcher Reihenfolge tun soll. Das schüchterte mich ein, auch wenn diese Herren und Damen immer sehr nett zu mir waren und mich keine einzige Person absichtlich von oben herab behandelte. Das hätte ich gemerkt und das hätte meine rebellische Art geweckt. Aber diese absolute Sicherheit dieser Leute, bei der ich mich in der Situation nur plump und ungeschliffen fühlen konnte – das war schon eine teilweise unangenehme Erfahrung. Ganz anders, wenn meine Mutter zur Geburtstagsfeier einlud – da wurde laut gelacht und erzählt und der Kuchen ohne Scheu aufgegessen. Es war wie zwei verschiedene Welten, obwohl wir im selben Haus mit demselben Hof wohnten. Ich sah mich niemals dieser Tanten-Welt zugehörig, sie war mir – egal wie viel ich zu Grußreihenfolgen lernte – immer einen Schritt in die High Society voraus und ich fühlte mich immer wohler, wenn ich einen zurücktreten konnte.
Bis auf einmal. Da war ich als junge Erwachsene, in meinen 20ern längst in Deutschland, mit Amerikanern, als die noch massenweise hier stationiert waren, für einen Sommer verbunden und ich ging ein paarmal zu ihren Partys. Einer, der sich verabschiedete (er war zur Zeit des „don’t ask don’t tell“ als Homosexueller aufgeflogen und musste die Army verlassen) drehte mit seiner Videokamera eine Art von Abschiedsfilm mit allem, was ihm ans Herz gewachsen war und dann sahen wir, die Protagonisten seines Films, uns das Ganze an. Auf diesem Video machten seine Noch-Kameraden, männliche wie weibliche, etliche auch obszöne Gesten,........