Was fasziniert uns so am Bösen? Anne Kunze von „Zeit Verbrechen“ über True Crime

der Freitag: Frau Kunze, können Sie etwas mit dem Gegensatzpaar „Gut“ gegen „Böse“ anfangen?

Anne Kunze: Solche Pole helfen höchstens als Rahmen. Aber letztlich bewegt sich alles dazwischen. Menschen, die vermeintlich böse sind, haben gute Anteile – und umgekehrt. Ich habe im Studium für die Magisterarbeit die Gewaltpraktiken des November-Pogroms 1938 in Deutschland untersucht. Als ich die Originalquellen las, war ich überrascht, wie schnell sich nette nicht-jüdische Deutsche gegen ihre jüdischen Mitbürger wandten. Ich glaube, „das Gute“ wie „das Böse“ kann jederzeit aus uns hervorbrechen. Und trotzdem bleiben wir die Menschen, die wir sind. Die Schwarz-Weiß-Pole helfen also beim Verstehen, aber sie treffen nicht die Realität.

Das Böse ist also situativ?

Das Böse manifestiert sich in Handlungen. Es gibt böse Handlungen, deswegen ist aber nicht unbedingt der Mensch selber böse. Natürlich ist eine Vergewaltigung, ein Mord oder auch eine Entführung eine böse Tat. Doch es ist wichtig, die Entstehungsbedingungen zu erkennen. Auch für die Justiz …

Warum faszinieren uns ausgerechnet True-Crime-Podcasts so?

Bei der Faszination von True-Crime-Podcasts spielen die ureigenen menschlichen Neigungen eine große Rolle. Neid, Liebe, Missgunst, Hass und Tod sind uns nicht fremd, wir tragen all das in uns. Und unsere Kultur ist voll davon. Die Gefühle brechen vielleicht nicht immer aus, aber sie sind immer da. Die True-Crime-Formate sind eine Form, sich mit den eigenen finsteren Anteilen ins Benehmen zu setzen. Ich glaube, das macht die Faszination aus.

Einige Fälle bei Zeit Verbrechen handeln von Betrug – von Betrügereien bei Kleinanzeigen über Liebes-Scammer bis hin zu großen Fällen wie der um Wirecard. Teilweise hört sich das fast lustig an.

Anhand von Wirtschaftsverbrechen kann man viel lernen. Zum Beispiel, wie Betrüger arbeiten. Das hat manchmal beinahe etwas von einem Schauspiel – von der Vorbereitung über den Haken, mit dem die Betrüger ihre Opfer ködern, bis zum Verbrechen des Betruges. Im Laufe ihres Lebens werden viele Leute Opfer von Betrug. Oft schämen sie sich dafür, aber es kann jedem passieren. Ich finde es wichtig, solche Fälle zu berichten. Damit man sich als Betrogener nicht so alleine fühlt – und das nächste Mal besser gewappnet ist.

Das Genre ,True Crime‘ interessiert mich gar nicht so sehr. Mich interessiert vor allem die investigative Recherche

Blickt man auf True-Crime-Formate geht es meistens um heftige Gewalt. Ist es Ihnen wichtig, bewusst auch andere Geschichten zu erzählen?

Mir ist die Recherche wichtig. Im Podcast berichten wir ausschließlich über Recherchen, die wir selbst unternommen haben. Wir haben Menschen und Unternehmen konfrontiert, wir sind selbst unterwegs gewesen, wir kennen die Akten. Der Begriff der Kriminalität ist weit. Was andere True-Crime-Podcasts angeht: Ich muss gestehen, dass ich diese Formate nicht gut kenne. Das Genre per se interessiert mich gar nicht so sehr. Mich interessiert vor allem die investigative Recherche. Wenn man den Begriff der Kriminalität weitet, ist fast jede investigative Recherche auch eine Kriminalgeschichte, weil es immer um Fehler oder Missstände geht. Deshalb haben wir in vielen Podcast-Folgen Investigativ-Kollegen und -Kolleginnen zu Gast. Solche komplexen Recherchewege dem Publikum zugänglich zu machen, das lieber Podcasts hört als Zeitung liest, finde ich wichtig und reizvoll.

Was löst es in Ihnen aus, wenn man Sie als True-Crime-Podcasterin bezeichnet?

Es ist ein Label, das mir nicht weh tut. Ich weiß, dass Zeit Verbrechen als True-Crime-Podcast wahrgenommen wird. Mir ist nicht so wichtig, was draufsteht, sondern was drin ist. Und drin ist bei uns eine Menge Recherche. Mich würde es stören, wenn man uns unterstellt, dass wir Fälle aus Wikipedia oder aus fremden zusammengesuchten Zeitungsartikeln nacherzählen. So etwas machen wir nicht. Manchmal denke ich mir aber: Wir müssen noch stärker darauf achten, dass das Publikum bemerkt, dass wir alles, das wir erzählen, selbst recherchiert haben. Und dass wir damit ein rein journalistisches Ziel verfolgen.

Sie kommen vom geschriebenen Wort. Auf einmal erzählen Sie über Kriminalfälle im Podcast. Wie unterscheidet sich das?

Der Podcast ist eine klassische Zweitverwertung. All die Recherchen, die wir im Podcast erzählen, standen ja vorher als Artikel in der ZEIT oder im Magazin ZEIT Verbrechen. Im Podcast bekommt das „Ich“ mehr Raum: Die Autorinnen und Autoren können im Podcast mehr von der eigenen Arbeit hinter den Kulissen, ihren Erlebnissen und........

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