John Mearsheimer: „Katastrophale Lage, vor allem für den Westen“ – in der Ukraine und in Gaza

Der amerikanische Politikwissenschaftler John J. Mearsheimer, Professor an der Universität von Chicago, zählt zu den profiliertesten Vertretern der sogenannten realistischen Schule der internationalen Politik. Im Gespräch mit der Berliner Zeitung gibt er seine Einschätzung der globalen Krisenherde.

Herr Mearsheimer, der Gazakrieg dauert bereits acht Monate, der Krieg in der Ukraine deutlich mehr als zwei Jahre. Wie bewerten Sie die geopolitische Lage?

Katastrophal, vor allem für den Westen. Die Russen werden in der Ukraine einen hässlichen Sieg davontragen. Es wird keinen konstruktiven Frieden geben. Der Konflikt wird eingefroren, und die Russen werden am Ende einen guten Teil des ukrainischen Territoriums erobern und annektieren.

Mehr, als sie heute besetzt halten?

Heute okkupieren sie etwa 20 Prozent der Ukraine, einschließlich der Krim. Es ist nicht klar, ob sie dazu in der Lage sind, aber möglicherweise erobern sie noch weitere vier Oblaste. Auf jeden Fall wird es einen russischen Sieg und einen eingefrorenen Konflikt geben, gefolgt von äußerst unangenehmen Beziehungen zwischen Russland einerseits und Europa und den USA andererseits. Ein sehr düsterer Ausblick, um es gelinde auszudrücken.

Was den Gaza-Krieg betrifft, so ist das, was den Palästinensern widerfährt, absolut schrecklich. Es ist auch kein Ende in Sicht. Israel wird weiterhin als Apartheidstaat existieren, in dem die israelischen Juden die Palästinenser beherrschen. Und die Palästinenser werden von Zeit zu Zeit aufbegehren. Genau das geschah am 7. Oktober. Davor gab es die erste Intifada 1987 und dann die zweite Intifada 2000. Die Palästinenser innerhalb „Großisraels“ weigern sich, beherrscht zu werden, und sie revoltieren. Es gibt keine nennenswerte Aussicht auf Frieden zwischen Palästinensern und israelischen Juden.

14.06.2024

•vor 8 Std.

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Unter Donald Trump gab es viel kriegerische Rhetorik, aber keine Kriege. Drei Jahre nach Joe Bidens Amtsantritt ist Washington indirekt an zwei Kriegen von globaler Bedeutung beteiligt. Inwieweit liegt das auch an der amerikanischen Politik?

Was den Ukraine-Krieg betrifft, so bin ich überzeugt, dass die westliche, von den USA vorangetriebene Politik die Hauptverantwortung trägt. Die Nato-Erweiterung und insbesondere der Wunsch, die Ukraine in die Nato aufzunehmen, waren die Hauptursache. Was die Ukraine betrifft, ist Joe Biden ein Super-Falke. Er war schon als Vizepräsident unter Barack Obama für das Ressort Ukraine zuständig. Als er im Januar 2021 ins Weiße Haus einzog, machte er sich sofort für die Ukraine stark. Unter Biden wurde die Ukraine schnell zu einem De-facto-Mitglied der Nato.

Die Russen machten schon 2021 deutlich, dass dies für sie inakzeptabel war. Sie suchten eine Verhandlungslösung, aber die Biden-Regierung hat sich darauf nicht eingelassen. Es ist kein Zufall, dass 13 Monate, nachdem Joe Biden ins Weiße Haus einzog, der Krieg begann.

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