In Aue ist eine Douglasie gestorben, gleich zweimal. Erst wurde sie gefällt und unter Polizeischutz in die Innenstadt gefahren. Dort stand sie ein paar Tage auf dem Postplatz: 13 Meter hoch, 1,5 Tonnen schwer, mit dicht geschraubten, weichen und biegsamen Nadeln, die zwischen den Fingern zerrieben nach Orange oder Zitrone duften.

Doch dann kippte der Baum bedenklich zur Seite – und mit ihm die Weihnachtsstimmung im Erzgebirgskreis. Diagnose: Spaltriss.

Spaltrisse können unterschiedliche Ursachen haben. Bei Bäumen sind es schwankende Temperaturen, starke Stürme, gefräßige Insekten, Pilzbefall oder mechanische Schäden, die beim Fällen, Verladen oder beim Transport entstehen. Im Gegensatz zu menschlichem Gewebe haben Bäume keine Selbstheilungskräfte. Was die Douglasie innerlich so zerrissen hat, dass sie durchzubrechen drohte, ist unklar und ohne Zeitmaschine schwer zu überprüfen.

Nicht einmal die Mitarbeiter des städtischen Betriebshofes in Aue wussten es, als sie in der vergangenen Woche anrückten, die bereits justierten Lichterketten abnahmen und Kettensägen an die Äste der Douglasie legten. Übrig blieb ein Baumstumpf von trauriger Gestalt und die Frage: Ist Weihnachten schon vorbei, bevor die Adventszeit richtig beginnen konnte? Was direkt zu den Anschlussfragen führt: Wozu braucht es Weihnachten überhaupt noch? Und wozu die ganze Aufregung, wenn eh kaum noch jemand an Gott glaubt und in die Kirche geht? Zumal im Osten, dem Paradies der Gottlosen und Kirchenbankschwänzer.

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Die aktuellen Zahlen sind pure Blasphemie: Im vergangenen Jahr gehörten etwa nur 3,5 Prozent der Sachsen der katholischen und 16,1 Prozent der evangelischen Kirchengemeinde an, auf Bundesebene waren es 24,8 sowie 22,7 Prozent. Und im kommenden Jahr, tja, da werden alle christlichen Konfessionen – die Orthodoxen und Freikirchler sind mit gemeint – erstmals weniger als die Hälfte der deutschen Bevölkerung ausmachen. Der Trend zum Mitgliederschwund und zum Bedeutungsverlust der Kirchen scheint unumkehrbar zu sein. Eine doppelt tote Douglasie kann ja auch nicht wieder aufblühen und nach Zitrone oder Orange duftend in den Baumhimmel fahren.

Neulich fragte der MDR „Wie viel Kirche braucht der Osten?“, und zu den Fernsehstudiogästen zählte der 1990 geborene Pfarrer Julius Geilhufe aus dem mittelsächsischen Großschirma. „Ich kenne nichts anderes als eine atheistische Gesellschaft“, sagte er und begründete das so: „Der einzige Erfolg der DDR war, die Kirche zu ruinieren.“ Aber: „Meine Gottesdienste sind schön besucht, und die Taufen wiegen die Beerdigungen und Austritte mehr als auf.“ Und: „Ich glaube, dass die Kirche im Westen sehr viel von der Kirche im Osten zu lernen hat.“

Pfarrer Geilhufe scheint ein sehr selbstbewusster und engagierter Mensch zu sein, man wünscht ihm und Großschirma alles Gute, auf dass diese Gemeinde, in der etwa ein Drittel rechts wählt, nicht weitere Spaltrisse bekommt. Denn die sind natürlich da. Wie überall im Osten, wo es kaum noch öffentliche Diskussionsräume gibt, wie sie die Kirchen vor der Wende stellten. Dort trafen sich Andersdenkende. Damals hörte man sich auch noch gegenseitig zu.

Die verstümmelte Douglasie in Aue ist übrigens verschwunden. Und ob man es nun glaubt oder nicht, Weihnachten fällt auch dieses Jahr nicht aus.

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Glauben im Osten: „Der einzige Erfolg der DDR war, die Kirche zu ruinieren“

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04.12.2023

In Aue ist eine Douglasie gestorben, gleich zweimal. Erst wurde sie gefällt und unter Polizeischutz in die Innenstadt gefahren. Dort stand sie ein paar Tage auf dem Postplatz: 13 Meter hoch, 1,5 Tonnen schwer, mit dicht geschraubten, weichen und biegsamen Nadeln, die zwischen den Fingern zerrieben nach Orange oder Zitrone duften.

Doch dann kippte der Baum bedenklich zur Seite – und mit ihm die Weihnachtsstimmung im Erzgebirgskreis. Diagnose: Spaltriss.

Spaltrisse können unterschiedliche Ursachen haben. Bei Bäumen sind es schwankende Temperaturen, starke Stürme, gefräßige Insekten, Pilzbefall oder mechanische Schäden, die beim Fällen, Verladen oder beim Transport entstehen. Im Gegensatz zu menschlichem Gewebe haben Bäume keine Selbstheilungskräfte. Was die Douglasie innerlich so zerrissen hat, dass sie durchzubrechen drohte, ist unklar und ohne Zeitmaschine schwer zu überprüfen.

Nicht einmal die Mitarbeiter des städtischen Betriebshofes in Aue wussten........

© Berliner Zeitung


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