Mittlerweile wird jeden Moment mit dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive gerechnet. Seit Tagen gibt es Angriffe auf russische Infrastruktur sowohl auf russischem als auch auf besetztem Gebiet. Züge entgleisen, Treibstoffdepots gehen in Flammen auf, Drohen greifen an. Doch was soll und was kann die Offensive wirklich erreichen? Darüber diskutierten am Sonntagabend die Gäste bei „Anne Will“. Titel der Sendung: „Gegenoffensive der Ukraine: Kann sie die Wende im Krieg bringen?“

Zu Gast sind die SPD-Vorsitzende Saskia Esken, der CDU-Außenpolitiker Norbert Röttgen, der frühere Chef der Münchner Sicherheitskonferenz und Ex-Diplomat Wolfgang Ischinger sowie der ehemalige ukrainische Botschafter und heutige Vizeaußenminister Andrij Melnyk und die Politikwissenschaftlerin Nicole Deitelhoff.

20.04.2023

20.04.2023

Andrij Melnyk, der aus Kiew zugeschaltet ist, nennt die bevorstehende Offensive zuallererst einen Hoffnungsschimmer für die Menschen in den besetzten Gebieten, die seit 14 Monaten unter russischer Besatzung leben. Er warnt jedoch vor zu hohen Erwartungen an die Operation und spricht von „Erfolgsdruck“. Es gehe die Vorstellung um, die Ukraine habe „nur diesen einen Schuss“. Wenn der nicht funktioniere, dann müsse man im Westen die Militärhilfe einstellen und verhandeln.

„Das ist falsch“, befindet Melnyk. Stattdessen müsse man sich unabhängig von der Offensive auf einen sehr langen Konflikt einstellen. „Auch die Menschen in den Ländern, die uns unterstützen, müssen wissen, dass es sich um eine Herkulesaufgabe handelt.“

•vor 1 Std.

04.05.2023

Ihm pflichtete Ex-Botschafter Wolfgang Ischinger bei. Es gelte das Gefühl zu überwinden, das mit dem Satz beschrieben wäre: „Wir müssen nur ein paar Wochen durchhalten“. Das wäre Gift für die Unterstützung. Der Kreml blicke nicht nur auf diesen Sommer oder kommenden Herbst. „Im Kalkül des Kremls denkt man an den November 2024, nämlich was im Weißen Haus passiert und bis dahin, denke ich, wird man in Russland davon ausgehen, dass man den längeren Atem hat und das alles aushalten kann.“ Angeblich soll Präsident Selenskyj ja kommendes Wochenende nach Berlin kommen. Geht das überhaupt, wenn gleichzeitig die Offensive beginnen würde?

Beim langen Atem, den der Westen braucht, sind sich alle Gäste einig. Die Politikwissenschaftlerin Deitelhoff gibt außerdem zu bedenken, dass die russischen Streitkräfte viel Zeit hatten, um sich auf die Offensive vorzubereiten. Die Lage sei nicht so wie bei der Offensive im vergangenen Herbst und Sommer. „Die Russen haben die Front über weite Strecken befestigt. Sie werden erheblichen Widerstand leisten“, warnt Deitelhoff.

03.05.2023

Norbert Röttgen stimmt zu und legt sich fest: „Es wird keine Beendigung des Krieges durch diese Offensive geben.“ Er gibt dennoch zu bedenken, dass die Unterstützung für die Ukraine in den Bevölkerungen des Westens schwinden könnte, sollte die Offensive keine Dynamik entfalten. Und trotz der großen Einhelligkeit in der Sache übt er hier Kritik. Denn dass die Russen so viel Zeit hatten, sich vorzubereiten, liege eben auch daran, dass die Ukraine nicht rasch genug mit Waffen, Munition und Gerät ausgestattet worden sei. Stichwort: Mangelnde Munition.

„Die Situation, die wir heute haben, ist durch ein Nichtstun in den letzten sieben bis acht Monaten entstanden.“ Röttgen lobt Verteidigungsminister Pistorius und hat den Kanzler im Blick. „Man muss es nicht den Balten sagen, den Polen, man muss es nicht der Außenministerin sagen, man muss es Olaf Scholz sagen“, so Röttgen.

Scholz‘ Parteifreundin Saskia Esken kann das nicht auf dem Kanzler sitzen lassen. „Wer habe denn die Panzerallianz geschmiedet?“, fragt sie. Es sei Olaf Scholz gewesen, der auch dafür gesorgt habe, dass die Amerikaner mit im Boot sind.

04.05.2023

vor 8 Std.

Hier sieht Andrji Melnyk eine Gelegenheit. Deutschland habe zwar einen Quantensprung in der Unterstützung gemacht, aber man habe „immer noch Scheuklappen“ auf. „Wir brauchen wie für die Panzer eine Koalition für Kampfjets.“

Deutschland habe 130 Eurofighter, in Europa gebe es 500. Wieso Kiew davon nicht 10 Prozent geben? Also 50 Stück? Das schlägt der Vizeaußenminister Melnyk vor. Konkret dazu will Esken nichts sagen, aber gibt das Versprechen ab, die Ukraine werde von Deutschland auf Dauer unterstützt. „Whatever it takes.“

Am Ende lenkt Ischinger die Diskussion auf die Frage, wie sich der Westen auf die Zeit nach dem Krieg vorbereiten wird, wenn es denn so weit ist. „Wer soll denn einen Waffenstillstand überwachen?“ In den USA würden sich dazu schon hunderte von Strategen Gedanken machen, in Europa kaum jemand.

Interessant: Als es um die Frage geht, ob die Ukraine nach dem Krieg in die Nato aufgenommen werden soll, gibt Ischinger zu bedenken, wie das in Russland verstanden wird. „Das ist ein Signal gegen Waffenstillstand und gegen Friedensverhandlungen. Das ist für Russland die Aufforderung, den Krieg ad infinitum fortzuführen.“

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QOSHE - Wolfgang Ischinger bei „Anne Will“: „Der Ukraine-Krieg wird mindestens bis zu den US-Wahlen 2024 dauern“ - Moritz Eichhorn
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Wolfgang Ischinger bei „Anne Will“: „Der Ukraine-Krieg wird mindestens bis zu den US-Wahlen 2024 dauern“

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08.05.2023

Mittlerweile wird jeden Moment mit dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive gerechnet. Seit Tagen gibt es Angriffe auf russische Infrastruktur sowohl auf russischem als auch auf besetztem Gebiet. Züge entgleisen, Treibstoffdepots gehen in Flammen auf, Drohen greifen an. Doch was soll und was kann die Offensive wirklich erreichen? Darüber diskutierten am Sonntagabend die Gäste bei „Anne Will“. Titel der Sendung: „Gegenoffensive der Ukraine: Kann sie die Wende im Krieg bringen?“

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20.04.2023

20.04.2023

Andrij Melnyk, der aus Kiew zugeschaltet ist, nennt die bevorstehende Offensive zuallererst einen Hoffnungsschimmer für die Menschen in den besetzten Gebieten, die seit 14 Monaten unter russischer Besatzung leben. Er warnt jedoch vor zu hohen Erwartungen an die Operation und spricht von „Erfolgsdruck“. Es gehe die Vorstellung um, die Ukraine habe „nur diesen einen Schuss“. Wenn der nicht funktioniere, dann müsse man im Westen die........

© Berliner Zeitung


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