Der alte Klassiker „Wir konnten nicht anders“ wird seit Menschengedenken politisch immer neu inszeniert. Angehende Regisseure haben im Drehbuch nur einige Hauptwörter mit der „Suchen/Ersetzen“-Funktion auszutauschen.

Stets können die Helden des Stücks aus hoch sittlichen Gründen gar nicht anders, als mit gutem Willen Schlimmes tun: Man muss einfach „für den Frieden bombardieren“ oder „zum Wohl der Kinder Schulen schließen“, oder was immer „die Bilder“ aus Sarajewo oder Bergamo oder woher auch immer gerade angeblich „fordern“.

Wer nach Abklingen einer Hysterie für „das Gute“ die Opfer zählt, Gerechtigkeit fordert und das doch irgendwie geltende (?) Recht durchgesetzt sehen will, für den sieht das Drehbuch des Klassikers die Rolle des anmaßlich mäkelnden Querulanten vor.

Diese Unsympathen sagen Sätze wie „Wir dürfen das nicht totschweigen“ oder „Journalismus ist entweder Machtkontrolle oder PR“ oder „Bundesinstitute sind nicht unabhängig“ – und darauf erwidern ihnen die Staatsraison-Darsteller mit Sätzen wie „Sie tragen ja keine Verantwortung!“ und „Es gab ja so viele Unsicherheiten!“, oder, immer gerne genommen, „Hinterher ist man immer schlauer!“. Und nun soll man bitte still sein und nicht mehr nerven.

Das Publikum lernt daraus: Das Gute ist sehr kompliziert, ja unbegreiflich kompliziert – jedenfalls immer aber gerade exakt so kompliziert, dass niemandem nach Offenbarwerden selbstgemachter Katastrophen redlich etwas angekreidet werden kann.

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Dieses ganze Theaterstück hängt an dem, was ich den „großen Trick“ nenne. Er ist unscheinbar und schnell angewendet: Es braucht dazu nur einen Satz, ja manchmal nur ein einziges Wort.

Wer den großen Trick zur rechten Zeit anwendet und sich dabei in Pose zu werfen weiß, der kann mit fast allem davonkommen: mit eindeutiger Inkompetenz und erwiesenen Lügen, mit einer selbstgemachten Rezession, mit sichtbarer Korruption, mit Ausverkauf heimischer Interessen an ausländische Mächte, mit Volksverhetzung gegen Minderheiten und sogar mit Totschlag durch unterlassenes Unterlassen wider besseres Wissen.

Und ein gewiefter Betrüger kann dank des großen Tricks bei all diesen Exzessen der Unsittlichkeit für den unbedarften Betrachter wie einer aussehen, der eben nicht anders konnte, dessen armer Wille von moralischen Ansprüchen bezwungen und deshalb auch für echte Verbrechen nicht wirklich verantwortlich ist.

Der große Trick, der seinen Anwendern so vieles ermöglicht und es ihren Gegnern so schwer macht, heißt „Moralisierung“. Um ihn auszuführen, reicht es aus, anstatt „Könntest du mir bitte zuhören?“ zu sagen „Nie hörst du mir zu!“.

Der erste Satz lässt weiter sachliche Diskussion zu. Das Wort „nie“ in der zweiten Variante führt aber dazu, dass nicht mehr von einer Sache die Rede ist, sondern von Charakteren: Hört jemand „nie“ zu, so ist er ein respektloser Mensch – und wer mir das vorwirft, will sicher gar keine Einigung mit mir finden, sondern mich einfach beleidigen. Und so sehen dann beide eine gute Entschuldigung, die mühselige Verständigung in der Sache aufzugeben.

Die AfD und der Unmut: Wer regierungskritisch ist, gilt plötzlich als „rechts“

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Eine öffentlich geäußerte Moralisierung ist Demagogie (Volksverhetzung). Gelingt sie, so wird die Debatte angstgelähmt, weil es sozial gefährlich erscheint, die moralisch stigmatisierten Ansichten zu äußern.

Moralisierung und Demagogie sind der große Trick der kleinen Politiker, und davor zu kuschen ist Untertanenart. Ein Drittel der Deutschen sagt laut Insa-Erhebung (12/2023) immer unbeschwert seine Meinung, die anderen zwei Drittel tun dies nicht mehr. Der Spuk endet, sobald dieses Kuschen endet.

QOSHE - „Wir konnten nicht anders“ - Michael Andrick
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„Wir konnten nicht anders“

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15.01.2024

Der alte Klassiker „Wir konnten nicht anders“ wird seit Menschengedenken politisch immer neu inszeniert. Angehende Regisseure haben im Drehbuch nur einige Hauptwörter mit der „Suchen/Ersetzen“-Funktion auszutauschen.

Stets können die Helden des Stücks aus hoch sittlichen Gründen gar nicht anders, als mit gutem Willen Schlimmes tun: Man muss einfach „für den Frieden bombardieren“ oder „zum Wohl der Kinder Schulen schließen“, oder was immer „die Bilder“ aus Sarajewo oder Bergamo oder woher auch immer gerade angeblich „fordern“.

Wer nach Abklingen einer Hysterie für „das Gute“ die Opfer zählt, Gerechtigkeit fordert und das doch irgendwie geltende (?) Recht durchgesetzt sehen will, für den sieht das Drehbuch des Klassikers die Rolle des anmaßlich mäkelnden Querulanten vor.

Diese Unsympathen sagen Sätze wie „Wir dürfen das nicht totschweigen“ oder „Journalismus ist entweder Machtkontrolle oder PR“ oder „Bundesinstitute sind nicht unabhängig“ –........

© Berliner Zeitung


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