Egon Krenz, Jahrgang 1937, saß als Spitzenpolitiker des Staates DDR am Abend des 9. Novembers 1989 in seinem Büro, wo alle Informationen über die Vorgänge an der Grenze zu Westberlin eingingen. Er trug die Verantwortung in einem historischen Moment. Im Interview legt er dar, warum er – wie schon einen Monat zuvor vor den Montagsdemonstrationen, zum Beispiel in Leipzig – den gewaltfreien Weg wählte. Er erklärt, warum er zögerte, Erich Honecker früher abzusetzen und spricht über das DDR-Wahlrecht, Macht und Ehrgeiz und die Einsichten des Alters. Ein Gespräch über Mut und Verantwortung – politisch und persönlich.
Herr Krenz, Sie haben in der Nacht des 9. November der Grenzöffnung für DDR-Bürger zugestimmt und mit Ihrer Entscheidung den Lauf der Weltgeschichte beeinflusst. War da Mut verlangt?
Die Entscheidung „Schlagbaum hoch oder nicht“ trafen letztlich ja unsere Grenzsoldaten vor Ort. Das war das einzig Vernünftige in dieser chaotischen Situation. Natürlich hätten wir die Schlagbäume wieder schließen können, weil wir in Berlin mit der Öffnung gegen das Vierseitige Abkommen der Siegermächte verstoßen hatten, worauf mich der sowjetische Botschafter im Auftrag von Gorbatschow am Morgen danach kritisch hinwies. Erst am Nachmittag des 10. November 1989 stimmte Gorbatschow zu, nachdem wir ihm eine Information über die Situation telegrafiert hatten.
Ich denke, dass es auch in jenem Moment bei mir so war wie bei anderen, die zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort Verantwortung trugen, als plötzlich Weltgeschichte gemacht wurde: Es trägt sich einfach zu. Erst im Nachgang wird einem die ganze Tragweite dessen bewusst, was da eigentlich geschehen ist, woran man – in meinem Fall auf höchster Ebene – beteiligt war.
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Im Nachhinein bin ich aber vor allem wütend, dass niemand von den BRD-Oberen es jemals für notwendig hielt, den Grenzsoldaten zu danken. Stattdessen wurden viele vor Gericht gestellt. Die Politiker von heute, die sich zum 9. November äußern, wiederholen eine Menge Unwahrheiten. Statt vom „Sturm auf die Mauer“ zu faseln, sollten sie dem Moderator Hanns Joachim Friedrichs zuhören, der am 9. November in den Tagesthemen der ARD noch die Wahrheit verkündete: Die DDR habe ihre Grenzen geöffnet. Das sei historisch.
Als Zeitzeuge, der in jener Nacht die Entscheidungen zu treffen hatte, kann ich das nur bestätigen und hinzufügen: Niemand von der DDR-Seite ist am 9. November mit Hacke und Spaten an die Grenze gegangen, um sie niederzureißen. Bilder, die so etwas zeigen, entstanden auf der Westseite oder wesentlich später.
Wie reagierte die Westseite darauf?
Am 11. November 1989 um 10.13 Uhr rief mich Bundeskanzler Helmut Kohl an, nachdem Michail Gorbatschow ihn am Vortag gewarnt hatte: „Bei den gegenwärtig faktisch offeneren Grenzen und den gewaltigen Menschenmengen in beiden Richtungen kann eine chaotische Situation mit unübersehbaren Folgen entstehen.“ Der sowjetische Präsident hatte zeitgleich Botschaften an US-Präsident Bush, Frankreichs Präsidenten Mitterrand und die britische Premierministerin Margaret Thatcher gesandt, in denen er „großdeutsche Ambitionen der Bundesrepublik“ zurückwies. Er sah in ihnen die Gefahr, dass die Lage nicht nur im Zentrum Europa, sondern in der ganzen Welt destabilisiert würde.
Unter diesem Druck rief Kohl mich zu einem Zeitpunkt an, als am Brandenburger Tor mehrere Hundert Westberliner auf der Mauer standen und mit Vorschlaghammer und Meißel gegen die Grenzanlagen vorgingen. Es bestand die Gefahr eines Grenzdurchbruchs von West nach Ost. Die Grenze war zwar von Ost nach West, nicht aber von West nach Ost geöffnet.
Der Bundeskanzler sagte mir: „Wir werden uns nicht zu unterhalten brauchen, was für Gefahren das sein können. Das kann sich jeder leicht ausrechnen.“ Kohl verurteilte jede Form der Radikalisierung. Er sprach nicht vom „Fall der Mauer“, sondern bedankte sich für die „Öffnung der Grenze durch die DDR“. Ähnlich äußerte sich der amerikanische Präsident George Bush sen.; er schrieb mir in einem Brief: „Die Vereinigten Staaten begrüßen Ihre Entscheidung, die Grenzen der DDR … zu öffnen.“
Im Herbst 1989 gingen DDR-Bürger........© Berliner Zeitung