Einer der Hauptvorwürfe gegen populistische Parteien lautet seit jeher: Die propagieren einfache Lösungen für komplizierte Probleme, die noch dazu nicht funktionieren. Die wahren, rationalen Problemlöser, das sind alle anderen Parteien und deren Wähler.

Die sehen die Welt so, wie sie ist und machen Vorschläge, die Probleme lösen, statt Schuldenböcke zu präsentieren, die man öffentlichkeitswirksam schlachten kann, ohne dass sich dadurch mehr verändert als das Wohlbefinden derer, die das getan haben. Wir sind rational, Populisten sind irrational. Und Politik soll Probleme lösen, den Bürgern und dem Land konkrete Vorteile bringen, ergo: rational sein. Den Satz kennt man von fast jeder Tagesschau und in der Regel kommt er aus dem Mund eines SPD-, Grünen-, CDU- oder FDP-Politikers: „Wir lösen die Probleme.“ Soll heißen: die anderen tun das nicht.

Aber Politik ist nicht rational. Mehr noch: Sie ist es nicht (nur) deshalb nicht, weil Politiker so rational gar nicht sind, wie sie gerne tun, sondern vor allem, weil wir, die Bürger, so rational gar nicht sind, wie unsere Politiker und wir selbst glauben.

In letzter Zeit sieht man das zum Beispiel daran, dass wir, die Bürger, in Umfragen ständig die falschen Proteste unterstützen. Falsch heißt: Diejenigen, deren Erfolg uns letztlich schadet. Nennen wir es das Weselsky-Paradox.

Sozialpsychologisch betrachtet, müssten Claus Weselsky, dem renitenten Chef der Lokführergewerkschaft GdL, unsere Sympathien geradezu entgegenfliegen, denn Weselsky ist der David im Kampf gegen gleich zwei Goliaths: die größere Konkurrenzgewerkschaft EVG und die Bahn, einen riesigen Konzern. Nur argumentiert Weselsky in der Öffentlichkeit gar nicht als David, sondern von einer Position der Stärke aus, also eher Goliath-mäßig: Alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will.

Er behauptet nicht, das Recht sei auf seiner Seite (wie Menschen, die dabei sind, in einem Machtkampf den Kürzeren zu ziehen) oder er sei moralisch überlegen (wie Menschen, die ahnen, dass kein Gericht ihnen recht geben wird), nein, er argumentiert, er könne die Bahn auch unbegrenzt stilllegen, wenn er nur wolle. Ganz am Rande sei vermerkt: Er hat damit Erfolg. Sein Ziel ist es ja nicht, unsere Herzen zu erobern oder einen Sympathiewettbewerb zu gewinnen, sondern mehr Geld für seine Mitglieder herauszuholen und als Gewerkschaft zu wachsen. Das tut er, und vermutlich ist seine Position in der GdL deshalb auch unangefochten. In den letzten Jahren hat die GdL höhere Lohnzuwächse für ihre Mitglieder erstritten als die EVG. Und während die EVG-Mitgliederzahl zurückgeht, steigt die der GdL ständig an.

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Dass GdL-Mitglieder Weselsky unterstützen ist also vollkommen rational: Sie haben von seiner Politik konkrete Vorteile. Aber was ist mit allen anderen? Umfragen zufolge unterstützt die Bahn-Streiks nur eine Minderheit der Bundesbürger. Im März dieses Jahres äußerten 65 Prozent kein Verständnis für weitere Streiks, aber immerhin 33 Prozent unterstützten sie. Kein Wunder. Die GdL hat gerade einmal 40 000 Mitglieder, die vom Erfolg eines Streiks profitieren werden, während er für sehr viel mehr Bundesbürger Nachteile bringt.

Mehr noch: Da die Bahn Verluste schreibt und vom Bund subventioniert wird, geht jede Lohnerhöhung für Lokführer zumindest teilweise auf Kosten der Steuerzahler – also letztlich aller Bürger, denn selbst diejenigen, die gar keine Einkommenssteuer zahlen (weil sie zu arm sind) tragen ja durch ihren Konsum zum Mehrwertsteueraufkommen bei. Wenn der Bund sich einmal weigert, der Bahn unter die Arme zu greifen, führen Lohnerhöhungen bei der Bahn zu Fahrpreiserhöhungen und treffen damit mit Sicherheit viel mehr Menschen als jene 40.000 GdL-Mitglieder, die Vorteile von Weselskys Streiks.

Merke: Weselsky und seine Forderungen nicht zu unterstützen, ist für Nicht-Lokführer genauso rational, wie es für ihn selbst und seine Mitglieder rational ist, zu streiken. Aber was ist mit den 33 Prozent, die Verständnis für den Streik äußern? Das sind umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ja über 27 Millionen Menschen und damit deutlich mehr, als die GdL Mitglieder hat und diese Mitglieder Verwandten haben. Da haben wir es, das Weselsky-Paradox: Millionen Bundesbürger unterstützen einen Streik, der nur einer winzigen Gruppe Vorteile und ihnen selbst – entweder als Bahnkunden oder als Steuerzahler – Nachteile bringt. Wenn das nicht irrational ist…

Wenn Sie also unbedingt einen Streik unterstützen wollen, der Ihnen selbst keine unmittelbaren Vorteile bringt, dann sollten Sie sich einen aussuchen, bei dem eine relativ kleine Gruppe von Streikenden versucht, einem nicht-subventionierten Privatbetrieb Konzessionen abzupressen, deren Folgen nur relativ wenige Bürger betreffen werden. Streiks des Bodenpersonals an Flughäfen, von Flugbegleitern und Piloten sind solche Streiks.

Piloten gibt’s zum Beispiel gerade mal halb soviel wie GdL-organisierte Lokführer. Wenn die ihre Forderungen durchsetzen, führt das nicht zu höheren Steuern oder dazu, dass Christian Lindner irgendwo kürzen muss, damit er der Lufthansa Subventionen zuschustern kann. Es führt höchstens zu etwas höheren Ticketpreisen. Aber das betrifft ja nur Leute, die fliegen. Wussten Sie, dass die Zahl der Bahnkunden pro Jahr sieben Mal so hoch ist wie die Zahl der Flugreisenden? Und da Flugreisende in der Regel seltener fliegen als Bahnreisende fahren (unter denen ja viele Pendler sind, die das täglich tun), ist es relativ rational, Piloten- und Pilotinnenstreiks zu unterstützen oder in Umfragen Sympathie für Steward- und Stewardessenstreiks oder den Ausstand des Bodenpersonals an Flughäfen zu äußern. Außer, Sie sind Vielflieger.

Nur tut das fast keiner. In letzter Zeit gab es zu solchen Streiks keine Umfragen – sie dauerten ja auch meist nicht sehr lange. Eine Umfrage zu einem Pilotenstreik 2010 zeigt aber, dass die Befragten da ziemlich unentschieden waren: 45 Prozent äußerten Verständnis für die Piloten, 44 Prozent hatten kein oder eher kein Verständnis, der Rest hatte keine Meinung.

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Im Grunde ist es ja auch egal: Ob Menschen, die von einem Streik weder direkt als Kunden noch indirekt als Steuerzahler betroffen sind, dafür oder dagegen sind, spielt ja keine Rolle bei der Beurteilung, ob sie sich rational verhalten. Aber was soll man von all den Bundesbürgern halten, die in Umfragen immer wieder Verständnis zeigen für Streiks, die ihnen direkt und langfristig schaden, weil sie Sektoren betreffen, die direkt aus Steuergeldern finanziert werden und viele, viele Menschen betreffen?

Streiks im öffentlichen Dienst erfüllen alle diese Kriterien: Die dort arbeiten, werden in Gänze aus Steuergeldern bezahlt, entweder von Kommunen, Ländern oder vom Bund. Bekommen sie Gehaltserhöhungen, geht das entweder auf Kosten anderer staatlicher Ausgaben wie Sozialleistungen oder Investitionen oder es erhöht die Neuverschuldung und damit die künftige Steuerlast, wenn die Zinsen für die Kredite fällig werden. Das zahlt jeder – entweder über die Einkommenssteuer, die Mehrwertsteuer oder beides. Und die Streiks selbst betreffen auch fast immer eine große Anzahl Bürger, weil es sich eben um öffentliche Dienstleistungen handelt, die da zurückgefahren werden. Aber als es Mitte März solche Streiks gab, da hatten 77 Prozent der Befragten Verständnis dafür und nur 20 Prozent lehnten diese Streiks ab. Wie war das noch gleich mit der Vorstellung von Politik als rationale Problemlösung?

Wenn wir Bürger uns irrational verhalten und Proteste unterstützen, die uns selbst schaden, dann können wir auch nicht ernsthaft unseren Politikern vorwerfen, dass sie auf uns hören und Sündenböcke schlachten, statt Probleme zu lösen oder Lösungen propagieren, die nicht funktionieren, aber im Volk populär sind. Das jüngste und extremste Beispiel dafür: die Bauernproteste.

Man erinnert sich: Als vor über zwei Jahren die russische Invasion der Ukraine begann und Russland noch eine funktionsfähige Schwarzmeerflotte hatte, ging ein Gespenst durch die Welt: Hunger. Die Ukraine und Russland gehören zu den größten Getreideexporteuren der Welt. Eine dauerhafte Blockade ukrainischer Getreideexporte, die damals überwiegend per Schiff stattfanden, führte zur Verknappung des Getreideangebots und trieb die Preise auf dem Weltmarkt in die Höhe. Dann handelten die UN und die Türkei mit der ukrainischen und russischen Regierung sichere Transportwege durchs Schwarzmeer aus, was die russische Regierung, als sie auf dem Schlachtfeld zu verlieren begann, aufkündigte. Dann geschah etwas Unerwartetes: Mit Hilfe von relativ billigen Drohnen eliminierte die Ukraine ein Schiff der Schwarzmeerflotte nach dem anderen und die EU öffnete den Landweg über Rumänien und Polen für zollfreie ukrainische Getreideexporte.

Es kam, wie es kommen musste: Nach einiger Zeit war genug Getreide auf dem Weltmarkt, um die Preise wieder zu drücken. Die Pandemie-getriebene Inflationsrate geht nun zurück, inzwischen wird Getreide immer billiger und die Teuerungsrate für Lebensmittelpreise liegt in Deutschland Anfang 2024 mit gerade mal 0,9 Prozent sogar unter der allgemeinen Teuerungsrate. Das ist eigentlich Grund zur Freude für Verbraucher (und dazu gehören wir alle), für die von Hunger betroffenen oder bedrohten Gegenden Afrikas und für die sozial Schwachen in Westeuropa. In deren Budgets macht Essen nun einen kleineren Teil der Kosten aus als zuvor. Auch für die Tafeln, die durch Inflation, hohe Lebensmittelpreise und steigende Nachfrage unter Druck gerieten, ist das ein Grund zum Feiern.

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Und jetzt kommt die große Überraschung: Mit der Ukraine hat das gar nichts zu tun. Deren Getreideexporte gingen nämlich kriegsbedingt weiter zurück, 2022 um 15 Prozent und 2023 sogar um 34 Prozent im Vergleich zum Vorjahr. Was polnischen Bauern, die dieser Tage wieder Großstädte, Autobahnen und Grenzübergänge blockieren, dabei zu schaffen macht, sind nicht die ukrainischen Exporte, sondern die Tatsache, dass von der PiS-Regierung protegierte Händler einen Teil des für Afrika bestimmten Getreides umgelenkt und in Polen verkauft haben. Damit drückten sie die Preise und brachten die Bauern auf die Palme.

Rumänien, das zweite große Transitland für ukrainisches Getreide, hatte dieses Problem nicht, vermutlich weil es schwerer ist, Getreidetransporte auf der Donau umzulenken als Lkws auf polnischen Landstraßen in die falsche Richtung zu schicken oder umzuladen. Was dagegen deutsche Landwirte auf die Barrikaden treibt, ist unklar. Denn für den Preisverfall auf dem Weltmarkt können weder die Ukraine, noch die EU-Kommission, noch die Bundesregierung etwas. Daran ist momentan sogar Russland unschuldig, denn der wahre Platzhirsch auf dieser Lichtung ist China. Die Ukraine exportierte 2023 gerade einmal 10 Millionen Tonnen Getreide, China dagegen 137 Millionen Tonnen.

Die Bundesregierung, die neue polnische Regierung und die EU-Kommission können aber etwas anderes: Sie können den Bauern den Preisverfall ausgleichen durch höhere Subventionen. Davon bekommen die Bauern in der gesamten EU inzwischen mehr, als Otto-Normalverbraucher sich vorstellen kann: Das Agrarbudget ist der größte Batzen des EU-Haushalts, nur ein kleiner Teil der Agrarsubventionen kommt aus nationalen Budgets und die EU bezahlt den Bauern nicht nur direkte Zuschüsse zu ihrem Einkommen, sondern stabilisiert diese auch noch zusätzlich durch Marktinterventionen.

Hohe Zölle auf Einfuhren aus Afrika und Lateinamerika in die EU sorgen für hohe Preise, Exportsubventionen sichern ab, dass teure EU-Produkte außerhalb der EU billig und konkurrenzfähig werden. Dadurch ruinieren sie unter Umständen afrikanische Bauern, aber wenn das passiert, kann die EU-Kommission die Produkte europäischer Bauern (natürlich zu hohen Preisen) aufkaufen und an die Hungernden in Afrika verschenken. Tut sie das ein paarmal, kann sie sicher sein, dass es dort anschließend keinerlei Konkurrenz mehr für EU-Agrarprodukte gibt und die Hungernden dort dauerhaft von europäischen Lieferungen abhängig sein werden.

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Aber damit nicht genug: Fallen in der EU die Agrarpreise, kann die EU Interventionskäufe unternehmen, um sie zu stützen. Bauern, die Flächen brach liegen lassen, bekommen dafür auch Subventionen, also genaugenommen dafür, dass sie darauf nichts produzieren. Und zusätzlich gibt’s noch aus ganz anderen Töpfen Geld für die Landentwicklung, also dafür, dass die Trecker unserer Bauern nicht auf Schotter sondern auf ordentlichen Teerstraßen aufs Feld fahren können. Konkurrenz, Weltmarktgeschehen, Qualität und Fleiß haben auf das Wohlergehen unserer Landwirte somit einen wesentlich geringeren Einfluss als der warme Brüsseler Subventionsregen, der sich alljährlich über sie ergießt. Deshalb wenden sich Bauernfunktionäre auch immer dahin, wenn mal wieder etwas Unangenehmes passiert. Das alles ist nicht verwunderlich und überaus rational, jedenfalls aus der Sicht der Bauern.

Dass polnische Befragte ihre Bauern in Umfragen zu ungefähr drei Vierteln selbst dann unterstützen, wenn diese rabiat werden, Gülle vor Behörden kippen, Grenzübergänge blockieren, die Warschauer Innenstadt paralysieren und ukrainisches Getreide vernichten, hat durchaus einen rationalen Kern. Da der Löwenanteil der Agrarsubventionen aus dem EU-Haushalt kommt und Polen immer noch Netto-Empfänger in der EU ist, wird der warme Geldregen, den die protestierenden Bauern herbeisehnen, letzten Endes vor allem von den Netto-Beitragszahlern, also der Bundesrepublik, Frankreich, den Niederlanden, Schweden und Österreich bezahlt. Die polnische Bevölkerung verhält sich also bei diesen Umfragen ungefähr so, wie nicht-fliegende Bundesbürger, die einen Pilotenstreik bei der Lufthansa unterstützen.

Welcher Teufel dagegen jene satte Bevölkerungsmehrheit von 68 Prozent in der Bundesrepublik reitet, die in Umfragen die Bauernproteste unterstützt, weiß ich beim besten Willen nicht. Die Blockaden erschweren vielleicht nur wenigen den Alltag, aber da Deutschland ja EU-Nettobeitragszahler ist, bedeuten noch höhere Subventionen aus Brüssel und Berlin für jeden von uns in absehbarer Zeit entweder geringere staatliche Ausgaben für andere Zwecke (Sozialausgaben, Investitionen, Bildung), höhere Steuern jetzt oder – falls die Subventionen kreditfinanziert werden – höhere Steuern in der nahen Zukunft. Falls die EU in die Preisentwicklung eingreift, bedeuten sie auch höhere Lebensmittelpreise und mehr Armut.

Woher kommt sie dann, diese extreme Form des Weselsky-Paradoxons, dieses Streben des Volkes, Proteste zu unterstützen, die der Mehrheit schaden?

Zum einen liegt das natürlich an den Mythen, die sich seit Jahrhunderten um die Landwirtschaft ranken und von Bauernvertretern am Leben gehalten werden, weil sie deren Interessen schützen. Bauern sind ehrlich, fleißig, erwirtschaften ihr Einkommen im Schweiße ihres Angesichts, sind wichtig zum Erhalt von Tradition und früher haben sie (bzw. ihre Söhne) auch das Land verteidigt und die Bevölkerung mit ihren Produkten ernährt. Der Mythos ist bis heute lebendig, auch wenn Bauern heutzutage vor allem hochmoderne Maschinen betätigen, Formulare ausfüllen und genauso von Steuergeldern leben wie Beamte und öffentliche Angestellte. Von einem solchen Nimbus können Lokführer und Piloten nur träumen. Aber das erklärt nicht alles.

Ein wenig sind die Piloten, Lokführer und öffentlichen Bediensteten nämlich selbst dran schuld, dass so wenige Verständnis haben für ihre Streiks. Zum einen deshalb, weil sie in diesem gesamtgesellschaftlichen und im Fall der Bauern sogar gesamteuropäischen Verteilungskampf gar nicht versuchen, ihr Anliegen so zu verkaufen, dass es Unbeteiligte überzeugt. Kein Bauernfunktionär wird zugeben, dass es ihm um mehr Subventionen geht. Alle reden von der schrecklichen Bürokratie, die sie davon abhält, zu säen und zu ernten (was ohnehin meist Saisonarbeitskräfte machen), davon, dass die „Versorgungssicherheit“ gefährdet sei, wenn Betriebe Konkurs anmelden, als ob Europa seine Lebensmittel ohne Schutzzölle und Agrarsubventionen nicht viel billiger auf dem Weltmarkt einkaufen könnte.

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Haben Sie schon einmal einen Cockpit-Vertreter oder einen Lokführer gehört, der seinen Streik damit begründete, er müsse die „Transportsouveränität“ der Bundesrepublik, „das Wohlergehen der (fliegenden und fahrenden) Bevölkerung“ schützen, opfere sich auf für Deutschlands „Industrie-Tradition“ und die „Transportsicherheit der Bevölkerung“? Das ist eher selten.

Herr Weselsky argumentiert da lieber mit dem, was ihm und seinen Schäfchen zusteht, mit der Macht, die seine Gewerkschaft hat und damit, wie fies angeblich die andere Seite ist. Hinzukommt, dass Bauern überall in Europa stramm geführte Verbände mit einem enorm hohen Organisationsgrad haben, deren Funktionäre hervorragende Beziehungen zu den Medien unterhalten, wenn sie nicht sogar ihre eigenen Medien besitzen. Von dem schweren Gerät, das sie im Gegensatz zu Lokführern und Piloten nahezu beliebig einsetzen können, ganz zu schweigen.

Auf die Idee, alle Lufthansa-Maschinen zu einem Sternflug nach Berlin zu versammeln und dort in Tempelhof, Tegel und BER sowie den angrenzenden Feldern landen zu lassen, ist bisher noch keine Pilotengewerkschaft gekommen. Wenn Piloten, öffentliche Angestellte und Lokführer streiken, tun sie das aus der Sicht der Allgemeinheit für ihre eigenen Interessen. Nur wenn Bauern streiken, dann tun sie das angeblich in unser aller Interesse. Und so kommt es, dass wir ein ums andere Mal Proteste unterstützen, deren Erfolg uns schadet und unsere Vertreter in Berlin, Brüssel und Straßburg dann diesen Protesten gegenüber ein ums andere Mal einknicken, weil das ja offenbar der Wille des Volkes ist. Sind Sie jetzt immer noch der Ansicht, nur Wähler populistischer Parteien handelten irrational?

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Das Weselsky-Paradox: Warum wir Proteste unterstützen, die uns eigentlich schaden

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25.03.2024

Einer der Hauptvorwürfe gegen populistische Parteien lautet seit jeher: Die propagieren einfache Lösungen für komplizierte Probleme, die noch dazu nicht funktionieren. Die wahren, rationalen Problemlöser, das sind alle anderen Parteien und deren Wähler.

Die sehen die Welt so, wie sie ist und machen Vorschläge, die Probleme lösen, statt Schuldenböcke zu präsentieren, die man öffentlichkeitswirksam schlachten kann, ohne dass sich dadurch mehr verändert als das Wohlbefinden derer, die das getan haben. Wir sind rational, Populisten sind irrational. Und Politik soll Probleme lösen, den Bürgern und dem Land konkrete Vorteile bringen, ergo: rational sein. Den Satz kennt man von fast jeder Tagesschau und in der Regel kommt er aus dem Mund eines SPD-, Grünen-, CDU- oder FDP-Politikers: „Wir lösen die Probleme.“ Soll heißen: die anderen tun das nicht.

Aber Politik ist nicht rational. Mehr noch: Sie ist es nicht (nur) deshalb nicht, weil Politiker so rational gar nicht sind, wie sie gerne tun, sondern vor allem, weil wir, die Bürger, so rational gar nicht sind, wie unsere Politiker und wir selbst glauben.

In letzter Zeit sieht man das zum Beispiel daran, dass wir, die Bürger, in Umfragen ständig die falschen Proteste unterstützen. Falsch heißt: Diejenigen, deren Erfolg uns letztlich schadet. Nennen wir es das Weselsky-Paradox.

Sozialpsychologisch betrachtet, müssten Claus Weselsky, dem renitenten Chef der Lokführergewerkschaft GdL, unsere Sympathien geradezu entgegenfliegen, denn Weselsky ist der David im Kampf gegen gleich zwei Goliaths: die größere Konkurrenzgewerkschaft EVG und die Bahn, einen riesigen Konzern. Nur argumentiert Weselsky in der Öffentlichkeit gar nicht als David, sondern von einer Position der Stärke aus, also eher Goliath-mäßig: Alle Räder stehen still, wenn mein starker Arm es will.

Er behauptet nicht, das Recht sei auf seiner Seite (wie Menschen, die dabei sind, in einem Machtkampf den Kürzeren zu ziehen) oder er sei moralisch überlegen (wie Menschen, die ahnen, dass kein Gericht ihnen recht geben wird), nein, er argumentiert, er könne die Bahn auch unbegrenzt stilllegen, wenn er nur wolle. Ganz am Rande sei vermerkt: Er hat damit Erfolg. Sein Ziel ist es ja nicht, unsere Herzen zu erobern oder einen Sympathiewettbewerb zu gewinnen, sondern mehr Geld für seine Mitglieder herauszuholen und als Gewerkschaft zu wachsen. Das tut er, und vermutlich ist seine Position in der GdL deshalb auch unangefochten. In den letzten Jahren hat die GdL höhere Lohnzuwächse für ihre Mitglieder erstritten als die EVG. Und während die EVG-Mitgliederzahl zurückgeht, steigt die der GdL ständig an.

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•vor 3 Std.

22.03.2024

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Warum die Deutsche Bahn keinen GDL-Streik braucht, um die Arbeit niederzulegen

21.03.2024

Corona: Die RKI-Protokolle und die Arroganz des Lothar Wieler

•vor 3 Std.

Dass GdL-Mitglieder Weselsky unterstützen ist also vollkommen rational: Sie haben von seiner Politik konkrete Vorteile. Aber was ist mit allen anderen? Umfragen zufolge unterstützt die Bahn-Streiks nur eine Minderheit der Bundesbürger. Im März dieses Jahres äußerten 65 Prozent kein Verständnis für weitere Streiks, aber immerhin 33 Prozent unterstützten sie. Kein Wunder. Die GdL hat gerade einmal 40 000 Mitglieder, die vom Erfolg eines Streiks profitieren werden, während er für sehr viel mehr Bundesbürger Nachteile bringt.

Mehr noch: Da die Bahn Verluste schreibt und vom Bund subventioniert wird, geht jede Lohnerhöhung für Lokführer zumindest teilweise auf Kosten der Steuerzahler – also letztlich aller Bürger, denn selbst diejenigen, die gar keine Einkommenssteuer zahlen (weil sie zu arm sind) tragen ja durch ihren Konsum zum Mehrwertsteueraufkommen bei. Wenn der Bund sich einmal weigert, der Bahn unter die Arme zu greifen, führen Lohnerhöhungen bei der Bahn zu Fahrpreiserhöhungen und treffen damit mit Sicherheit viel mehr Menschen als jene 40.000 GdL-Mitglieder, die Vorteile von Weselskys Streiks.

Merke: Weselsky und seine Forderungen nicht zu unterstützen, ist für Nicht-Lokführer genauso rational, wie es für ihn selbst und seine Mitglieder rational ist, zu streiken. Aber was ist mit den 33 Prozent, die Verständnis für den Streik äußern? Das sind umgerechnet auf die Gesamtbevölkerung ja über 27 Millionen Menschen und damit deutlich mehr, als die GdL Mitglieder hat und diese Mitglieder Verwandten haben. Da haben wir es, das Weselsky-Paradox: Millionen Bundesbürger unterstützen einen Streik, der nur einer winzigen Gruppe Vorteile und ihnen selbst – entweder als Bahnkunden oder als Steuerzahler – Nachteile bringt.........

© Berliner Zeitung


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