Antisemitismus-Resolution: Der Bundestag straft jetzt durch die Hintertür
Die Parteien im Bundestag mögen übereinander in TV-Shows herfallen, es gibt trotzdem einen Grundkonsens, der offenbar sogar von den Grünen bis zur AfD reicht. Am 7. November haben SPD, Grüne, CDU/CSU, FDP und AfD (gegen die Stimmen von BSW und unter Enthaltung der Linken) eine vorher hinter verschlossenen Türen zwischen Ampel und Christdemokraten ausgehandelte „Entschließung gegen Antisemitismus“ verabschiedet, die es in sich hat.
Kritisiert wurde sie schon im Vorfeld, als ihre Details durchsickerten, von Teilen der Medien, Rechtsexperten, jüdischen und nicht-jüdischen Linken und Liberalen, die fanden, sie gehe zu weit, bediene sich schwammiger Konzepte und schränke die Meinungsfreiheit ein. Verteidigt wurde sie von Konservativen, Vertretern jüdischer Verbände, aber auch von Juristen, die finden, dass sich Antisemitismus seit einigen Jahren so stark verändert hat, dass er vom behördlichen Radarschirm nicht mehr erfasst wird. -Beide Ansichten gehen am Kern der Sache vorbei. Und sie übersehen vollkommen, dass die Bundestagsresolution ein Problem löst, das es gar nicht gibt.
Kritik an Antisemitismus-Resolution: „In Deutschland gibt es jetzt verordneten Philosemitismus“
06.11.2024
Meron Mendel: „Ich will keinen Dank dafür, dass ich als Jude in Deutschland lebe“
09.11.2024
„Seit dem grausamen Terror-Überfall der Hamas auf Israel am 7. Oktober 2023 sehen wir in Deutschland Judenhass und israelbezogenen Antisemitismus auf einem seit Jahrzehnten nicht dagewesenen Niveau. Der Anstieg antisemitischer Einstellungen und Taten ist zutiefst beunruhigend“, heißt es gleich zu Anfang der Resolution gewissermaßen zur Begründung dafür, warum die Abgeordneten so viel Energie in etwas gesteckt haben, was rein juristisch betrachtet gar kein Recht ist, rechtlich niemanden bindet und eigentlich gar nicht zum Kerngeschäft des Bundestages gehört. Der ist nämlich dazu da, Gesetze zu verschieden und die Regierung zu kontrollieren.
Nur: Diese Begründung ist ein Schuss in den Ofen. Gemessen in Meinungsumfragen, in denen nach typischen antisemitischen Haltungen gefragt wird, sinkt der Antisemitismus in der Bundesrepublik seit Jahren. Kein Wunder: Die Einwanderung aus arabischen und muslimischen Ländern mit Nahost-Affinität ist immer noch geringer als die Überalterung Deutschlands. Brutal ausgedrückt: Es sterben mehr alte Antisemiten, als junge Antisemiten zuwandern.
Bisher maß man Antisemitismus, indem man Befragte mit Behauptungen darüber konfrontiert, ob Juden die Welt beherrschen, zu viel Einfluss auf der Welt haben oder aus der Aufarbeitung des Holocaust Vorteile ziehen wollen. 2003 fanden letzteres noch 38 Prozent, 20 Jahre später waren es nur noch 24. Nach dem 7. Oktober 2023 stieg der Anteil antisemitischer Haltungen in Umfragen in Westdeutschland leicht an und sank im Osten – beides bewegte sich in einem Rahmen von unter fünf Prozent. Paradoxerweise sind aber enorm viele Deutsche inzwischen überzeugt davon, dass der Antisemitismus in der Bundesrepublik ständig ansteigt – das liegt wohl daran, dass ständig darüber diskutiert wird.
Man kann diese sinkende Tendenz wegargumentieren, indem man Antisemitismus anders misst. Man könnte zum Beispiel danach fragen, ob Israel im Gaza-Streifen Völkermord begeht, wer am Nahostkonflikt schuld ist, oder ob die Befragten für einen sofortigen Waffenstillstand sind. Dann bekommt man vermutlich höhere Werte, aber man kann daraus nicht auf einen Anstieg schließen, denn solche Haltungen konnte man ja vor dem Oktober 2023 gar nicht messen.
Antisemitismus-Resolution: Kulturrat sieht Raum für freie Kunst und Meinungsäußerung gefährdet
04.11.2024
Kenneth Stern schrieb die IHRA-Definition für Antisemitismus und sieht sie missbraucht – auch von Chialo
22.01.2024
Was dagegen messbar anstieg, waren polizeilich erfasste antisemitische Straftaten. Die explodierten nach dem Oktober letzten Jahres geradezu und haben sich seither mehr als verdoppelt. Aber kann man mit einer rechtlich nicht bindenden Bundestagsresolution gegen einen Anstieg bestimmter Straftaten vorgehen? Eine rhetorische Frage: Dafür müsste der Bundestag eine Novelle des Strafgesetzbuches verabschieden. Das wiederum wäre mithilfe der Definition, auf die er sich in der Entschließung bezieht, unmöglich. Die Bundestagsmehrheit hat nämlich etwas ziemlich Kurioses getan: Sie hat eine von Historikern und Geschichtspädagogen entwickelte Arbeitsdefinition übernommen, die so unscharf ist, dass sie wirkt, wie Spatzenschrot: Egal, wie und wohin man damit schießt, man trifft garantiert etwas.
Diese Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance (IHRA) lautet: „Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Jüdinnen und Juden, die sich als Hass gegenüber Jüdinnen und Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort oder Tat gegen jüdische oder nichtjüdische Einzelpersonen und/oder deren Eigentum sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen.“ Was sagt uns das? Antisemitismus ist „eine bestimmte Wahrnehmung“,........
© Berliner Zeitung
visit website