Oppositioneller aus Belarus: „Die westlichen Sanktionen drängen das Land in Putins Arme“

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Andrej Dmitrijew setzt sich seit seiner Studienzeit aktiv für die Stärkung der belarussischen Zivilgesellschaft, den Aufbau der Demokratie und des Rechtsstaates ein. Dmitrijew war wegen seiner politischen Aktivitäten wiederholt behördlichen Repressionen ausgesetzt. Auch nach Verbüßung seiner jüngsten Haftstrafe von 18 Monaten möchte Dmitrijew Belarus nicht verlassen und setzt seine politische und zivilgesellschaftliche Arbeit fort.

Im Gegensatz zu anderen belarussischen Oppositionellen sieht Dmitrijew die Wiederaufnahme der Kontakte zwischen dem Westen und Belarus als unumgänglich an. Andernfalls würde Belarus seine Unabhängigkeit verlieren und endgültig unter die Herrschaft Wladimir Putins fallen.

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Herr Dmitrijew, im Frühjahr 2023 wurden Sie in Belarus zu einer Haftstrafe von 18 Monaten verurteilt, weil Sie an Massenprotesten gegen schweren Wahlbetrug bei den Präsidentschaftswahlen 2020 teilnahmen. Sie waren einer der Kandidaten der Opposition bei diesen Wahlen. Was genau war der Ausgangspunkt für die größten Bürgerproteste in der Geschichte des modernen Belarus?

Damals ging es nicht nur um die Wahlen, obwohl auch sie natürlich eine Rolle spielten. Vielmehr war es ein direkter Zusammenstoß zwischen einem Großteil der Gesellschaft und den Behörden, es ging um Konflikte, die sich seit langem aufgestaut hatten. Die Pandemie, das allgemeine Gefühl der Unsicherheit, die fehlende Hoffnung auf Veränderungen innerhalb des bestehenden Systems – all das war zu einem Knoten verwoben, der schließlich 2020 durchschlagen wurde. Die Menschen spürten, dass sie mit ihrer Geduld am Ende waren und machten einen Schritt nach vorne. Sie wagten gleichsam einen Glaubenssprung in Richtung Veränderung. Es war ein wahrhaft heroischer Akt. Die Belarussen taten so viel, wie niemand von ihnen erwartet hatte. Doch leider fehlte es uns an Führungspersönlichkeiten, die diese Energie nutzen konnten. Viele Menschen dachten, dass sich der Wandel schnell vollziehen würde, aber die Realität erwies sich als weitaus komplizierter.

Was war der Hauptunterschied zwischen den früheren Protesten und den Protesten 2020?

Der Hauptunterschied bestand darin, dass 2020 alle Gesellschaftsschichten, Altersgruppen und Berufsgruppen auf die Straße gegangen sind und sich emotional beteiligt haben, um gemeinsam zu sagen: „Wir sind hier, wir dürfen nicht ignoriert werden!“ Es ging um die Zukunft unseres Landes und darum, wie es seine Bürger behandeln sollte. Die Proteste waren eine Art Kampfansage: „Wir wollen nicht nach den alten Regeln leben, wir brauchen eine Alternative!“ Um die Außenpolitik, um eine Entscheidung zwischen dem Westen und Russland ging es nicht, sondern nur um uns selbst.

Was bleibt von den Protesten nach mehr als vier Jahren?

Das Hauptergebnis ist die Erkenntnis, dass die Mehrheit der Belarussen in einem normalen demokratischen Land, in einem Rechtsstaat leben möchte. Wir sind als Nation politisch gereift. Wir werden nach 2020 nicht mehr dieselben sein, genauso wenig wie Belarus. Selbst diejenigen, die dachten, dass sich alles auf einen Schlag ändern ließe, erkennen jetzt, dass der Weg lang und beschwerlich sein wird. Bis 2020 hatten wir die Chance auf eine schrittweise Lockerung des Regimes und auf Veränderungen – Schritt für Schritt, durch Evolution, nicht durch Revolution. Viele Menschen in der Zivilgesellschaft haben das damals gespürt und erinnern sich heute mit Wehmut daran. Ich glaube allerdings nicht daran, dass diese Überzeugung auf Illusionen oder Naivität gründete, vielmehr handelte es sich um eine Strategie der Fürsorge für die Menschen. Wir hätten nachhaltige Veränderungen erreichen können, wenn alle Seiten bereit gewesen wären, sich auf einen Dialog einzulassen.

Was genau hätte eine derartige friedliche Koexistenz zwischen der Gesellschaft und den Behörden beinhalten müssen?

Eine friedliche Koexistenz hätte mit einfachen Dingen anfangen können: Einbindung der Opposition in das Parlament und die Kommunalvertretungen, größere Freiheit für die Zivilgesellschaft. Das Wichtigste wäre es aber gewesen, die Logik des „Wir gegen sie“ aufzugeben. Wir alle wollen in einem unabhängigen und friedlichen Belarus leben. Ich glaube, dass es sogar bis Oktober 2020 die Möglichkeit gab, eine Einigung zu erzielen, doch mangelte es am politischen Willen. Danach entschieden sich die Behörden für ein extrem hartes Vorgehen gegen die Protestierenden, und das Zeitfenster schloss sich. Heute ist die Lage natürlich schlimmer, vor allem nach Beginn des offenen Krieges Russlands gegen die Ukraine. Im Jahr 2020 konnten wir noch einen Kompromiss anstreben, heute ist das sehr viel schwieriger geworden. Notwendig bleibt dies aber dennoch.

Seit Beginn der russischen Invasion gegen die Ukraine nutzt Moskau das Gebiet der Republik Belarus als Rückzugsgebiet und beschießt von dort aus auch ukrainische Städte. Aus völkerrechtlicher Sicht ist Belarus demnach eine Konfliktpartei. Warum hat Minsk aber bislang keine Truppen in die Ukraine entsandt?

Im Moment gibt es keinen Beschuss vom belarussischen Hoheitsgebiet aus, auch zeigt sich Minsk bemüht, alle problematischen Ereignisse zu verschleiern. Den belarussischen Behörden ist bewusst, dass es Selbstmord wäre, Truppen in die Ukraine zu entsenden. Die Gesellschaft ist kategorisch gegen den Krieg – sowohl die Anhänger als auch die Gegner des Regimes. Das unterscheidet uns von Russland. Lukaschenko weiß, dass Belarus mit der Entsendung von Truppen selbst den Anschein von Souveränität verlieren würde. Deshalb wird alles getan, um Moskau „im Stillen“ und vor allem mit nichtmilitärischen Mitteln zu unterstützen: Man bewacht die Grenzen des Unionsstaates ohne Russlands Beteiligung, unterstützt Moskau im Handelsbereich. Die rote Linie für Minsk ist die direkte Kriegsteilnahme.

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