Im Alter von 39 Jahren wurde Andrei Kosyrew zum ersten Außenminister des unabhängigen Russlands ernannt. Er spielte eine Schlüsselrolle bei der Ausarbeitung der Belowescher Vereinbarungen vom 8. Dezember 1991, die zur Auflösung der Sowjetunion und zur Gründung der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) führten. Zwischen 1991 und 1995 prägte er den außenpolitischen Kurs Russlands, vorneweg den Ausbau der Beziehungen zum Westen und zur Nato. Im Jahr 2000 zog er sich aus der Politik zurück und wechselte in die amerikanische Privatwirtschaft. Seit Jahren kritisiert Kosyrew das politische System Russlands und die Politik Wladimir Putins. Seine 2019 erschienenen Memoiren „The Firebird: The Elusive Fate of Russian Democracy“ ermöglichen einen kritischen und überaus lesenswerten Einblick in die letzten Jahre der Sowjetunion, das erste Jahrzehnt des neuen demokratischen Russlands sowie dessen Abgleiten in den Autoritarismus.
Herr Kosyrew, am 9. November 2024 jährt sich der Fall der Berliner Mauer zum 35. Mal. Wie haben Sie dieses historische Ereignis erlebt?
Anfang November 1989 war ich als Leiter der Abteilung Internationale Organisationen im sowjetischen Außenministerium in Berlin, um an Konsultationen zwischen den sozialistischen Staaten teilzunehmen. Diese Treffen dienten der Vorbereitung unserer Arbeit in der Uno und fanden traditionell jedes Jahr in den Hauptstädten der sozialistischen Länder statt. Im Jahr 1989 war Berlin an der Reihe – wie sich später herausstellen sollte, war dies das letzte Treffen dieser Art. Am Vorabend des Falls der Berliner Mauer saßen wir in der sowjetischen Botschaft Unter den Linden und diskutierten, welche gemeinsamen Schritte das sozialistische Lager in der Uno gehen sollte. Währenddessen fand in der Nähe der Botschaft eine große Demonstration statt. Wir wurden immer wieder abgelenkt, gingen zum Fenster und beobachteten gespannt, ob die DDR-Truppen auf die Demonstranten schießen würden oder nicht.
Erschienen diese Demonstrationen Ihnen besorgniserregend, oder waren Sie vielmehr beeindruckt von der Tapferkeit der Demonstranten?
Ich muss sagen, dass meine Kollegen und ich alle gut gelaunt waren – mit Ausnahme der deutschen Gastgeber. Unser Gastgeber, ein älterer Herr namens Gerhard (leider erinnere ich mich nicht mehr an seinen Nachnamen), war sichtbar aufgebracht. Er machte aus seinem Unmut keinen Hehl und ließ sich auch politisch darüber aus. Später, bei einer Tasse Kaffee, sagte er zu mir: „Wie kann das sein, warum hat uns die Sowjetunion verraten?“ Seine Reaktion hat mich tief erschüttert. Es war bemerkenswert, dass gerade der deutsche Vertreter so negativ auf die friedlichen Proteste seiner Mitbürger reagierte. Als ich am nächsten Morgen aufwachte, war bereits klar, dass die Mauer unwiderruflich gefallen war und der Weg in den Westen durch das Brandenburger Tor offenstand. Ich nutzte die Gelegenheit und machte an diesem Tag sogar einen kleinen Spaziergang in West-Berlin.
Hätten Sie sich vorstellen können, dass die UdSSR nur zwei Jahre später verschwinden würde?
Nein, das war für uns alle unvorstellbar. Selbst ein Jahr nach dem Fall der Berliner Mauer, als ich im Oktober 1990 Außenminister der russischen Regierung wurde, kam mir der Gedanke an einen Zusammenbruch der Sowjetunion nicht in den Sinn. Niemand von uns – auch nicht Boris Jelzin – konnte sich vorstellen, dass wir nur ein Jahr später die Regierung eines unabhängigen Russlands führen und die UdSSR nicht mehr existieren würde. Und wissen Sie, was bemerkenswert ist? Selbst in Gesprächen mit westlichen Vertretern, in den internationalen Arbeitsgruppen, hat nie jemand den Zusammenbruch der Sowjetunion als eine reale Möglichkeit angesprochen.
Tatsächlich war sogar der Zusammenbruch des Warschauer Pakts 1991 ein absoluter Schock. Aber die Vorstellung, dass die Sowjetunion selbst aufhören könnte zu existieren – nein, das lag völlig außerhalb unseres Vorstellungsvermögens.
Um den Zerfall der UdSSR aufzuhalten, schlug der Präsident der Sowjetunion, Michail Gorbatschow, im Dezember 1990 einen Entwurf für einen neuen Unionsvertrag vor. Die Sowjetunion sollte in eine Föderation gleichberechtigter,........© Berliner Zeitung