„Die anderen haben mich bis zur Stiege gerollt und stehen gelassen, und dann haben sie gesagt: ,Komm' doch mit, Thomas!' Dann haben sie gelacht und sind ohne mich die Stiegen hinuntergegangen.“ Erinnerungen wie diese hat Thomas Nayer an seine Schulzeit. Der heute 20-Jährige hat Zerebralparese, eine Bewegungsstörung, die für ihn mit Spastiken einhergeht, weshalb er im Rollstuhl sitzt. Er ist intelligent, aufgeweckt und hat Humor – in der Schule musste er dennoch von klein auf kämpfen: gegen Stiegen und Barrieren im Kopf, wie er sagt. Denn von Chancengleichheit und Inklusion von Menschen mit Behinderung ist Österreich weit entfernt.

Und das, obwohl seit 2006 das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft ist, das den Bund verpflichtet, allen Menschen mit Behinderung den barrierefreien Zugang zu seinen Leistungen und Angeboten zu ermöglichen. 2016 endete dessen zehnjährige Übergangsfrist. Gleichzeitig gilt seit 1997 Artikel 7 des Bundes-Verfassungsgesetzes: Demnach sind alle Staatsbürger:innen vor dem Gesetz gleich, und niemand darf aufgrund seiner Behinderung ausgeschlossen werden. Konkret auf Bildung und Schule bezogen, gäbe es dann auch noch die UN-Behindertenrechtskonvention, die besagt, dass Kinder mit Behinderung weder vom Unterricht an der Grundschule noch an weiterführenden Schulen ausgeschlossen werden dürfen. Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht.

Rechtliche Gründe, dass Kinder mit Behinderung einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung erhalten müssen, gibt es also genug – doch wie viele Schulen sind barrierefrei? Noch lang nicht jede Schule in Österreich, wie die Recherche der WZ zeigt. Nur Bundesschulen wie Bundesgymnasien oder berufsbildende höhere Schulen seien seit dem Schuljahr 2018/19 barrierefrei, heißt es vom Bildungsministerium. Die Altbauten habe man angepasst, soweit „das technisch möglich war". Auf die Bundesschulen fallen allerdings weniger als 20 Prozent der insgesamt rund 5.200 öffentlichen Schulen in Österreich (764 sind privat), so die Zahlen der Statistik Austria für das Schuljahr 2022/23. Der Rest sind Pflichtschulen wie Volksschulen oder Neue Mittelschulen.

Ab hier wird es kompliziert, was das Nennen konkreter Zahlen betrifft. Die Bildungsdirektionen der einzelnen Bundesländer verfügen nur über Informationen zu den Bundesschulen, für die das Behindertengleichstellungsgesetz gilt und der Bund zuständig ist. Für die Pflichtschulen müsse man alle Gemeinden durchrufen, weil diese in deren Kompetenzbereich fallen, hieß es von den Bildungsdirektionen. Generell gilt: Neubauten werden barrierefrei errichtet, bestehende Schulen werden nach und nach mit Rampen, Aufzügen, barrierefreien Toiletten und sogenannten taktilen Leitsystemen für sehbeeinträchtigte Schüler:innen ausgestattet.

Um diesen externen Inhalt zu verwenden, musst du Tracking Cookies erlauben.

Ohne Cookies funktioniert die Website wienerzeitung.at nur eingeschränkt. Für eine sichere und einwandfreie Nutzung unserer Website werden daher technisch notwendige Cookies verwendet. Für die Darstellung von Inhalten von Drittanbietern (YouTube, Simplecast, 23degrees und APA) werden Session-Cookies gesetzt. Bei diesen kann eine Datenübermittlung in ein Drittland stattfinden. Ihre Einwilligung zur Setzung genannter Cookies können Sie jederzeit unter "Cookie Einstellungen" am Seitenende widerrufen oder ändern. Nähere Informationen zu den verwendeten Cookies finden sich in unserer Datenschutzerklärung und in unserer Cookie Policy.

Nicht einmal das Bildungsministerium kennt die Zahl barrierefreier Schulen. Lediglich für Wien lässt sich ein Bild zeichnen, über das Martin Ladstätter, Obmann des Vereins „Bizeps – Zentrum für Selbstbestimmtes Leben", allerdings „verärgert ist": In Wien gibt es eine Sonderregelung, wonach laut MA 56 (Wiener Schulen) die Schaffung der Barrierefreiheit von Gebäuden, zu denen die öffentlichen Wiener Pflichtschulen zählen, Teil eines Etappenplanes ist, der von 2012 bis 2042 läuft. Doch „höchstwahrscheinlich wird nicht einmal dieser Plan halten“, meint Ladstätter. „Noch immer darüber diskutieren zu müssen, warum Menschen mit Behinderungen aufgrund von Barrieren nicht in ein Schulgebäude kommen können, ist eine Zumutung. Hier werden Menschenrechte nachhaltig missachtet", sagt er.

Wie weit der Etappenplan bisher umgesetzt wurde, will uns die Stadt nicht sagen. Die WZ erhielt weder von der MA 56 (Wiener Schulen), noch von Bildungsstadtrat und Vizebürgermeister Christoph Wiederkehr oder der Kompetenzstelle barrierefreies Planen, Bauen und Wohnen eine Antwort darauf.

Doch es gibt Hinweise, dass Wien in Sachen Barrierefreiheit den anderen Bundesländern hinterherhinkt. Dafür muss man sich von einer anderen Seite dem Thema nähern: Klassenräume werden auch als Wahllokale verwendet. Diese müssen im Sinn der Demokratie für alle zugänglich und barrierefrei gestaltet sein. Das wurde im Wahlrechtsänderungsgesetz 2023 festgeschrieben. In der Parlamentskorrespondenz zu diesem Gesetz vom 31. Jänner 2023 heißt es: „Laut Grünen-Behindertensprecherin Heike Grebien sind österreichweit derzeit rund drei Viertel der Wahllokale barrierefrei. Allerdings gebe es große regionale Unterschiede. So hinkt Wien ihr zufolge mit 56 Prozent hinterher."

Marina Nayer, Thomas' Mutter, berichtet von einem ähnlich niedrigen Angebot an barrierefreien Schulen in Wien. Nach der Volksschule, die auch schon in einem ganz anderen Bezirk als dem Wohnbezirk gelegen war, machte sie sich auf die Suche nach einer barrierefreien weiterführenden Schule für ihren Sohn. „Alte Gebäude fielen schon einmal weg, sicher 50 Prozent waren von vornherein nicht barrierefrei. Dazu sind die nächsten 30 Prozent gekommen, weil die Direktorin oder der Direktor nicht offen genug für einen Schüler im Rollstuhl war." Bleibt nicht mehr viel übrig, wenn man von den laut Bildungsministerium rund 100 Gymnasien und 130 Neuen Mittelschulen Wiens ausgeht.

Eine Schule musste Familie Nayer oft suchen. Denn selbst baulich barrierefreie Schulen entpuppten sich als wenig inklusiv. „Ein Englisch-Lehrer, der wusste, dass es für mich leichter ist, wenn er Arbeitsunterlagen größer kopiert, hat eines Tages nur mir alles auf A5-Zetteln gegeben und den anderen auf A4 – also für mich extra klein", erinnert sich Thomas Nayer.

Er musste also wieder eine andere Schule suchen, die barrierefrei ist. Wie viele Schüler:innen generell Barrierefreiheit bräuchten, ist nicht erhoben – lediglich zu den Pflichtschüler:innen gibt es konkrete Zahlen: 4,5 Prozent verfügen über einen sonderpädagogischen Förderbedarf. Das hat eine Studie eines Forschungsteams ergeben, das aus Expert:innen des Netzwerks Österreichischer Inklusionsforscher:innen aus unterschiedlichen Hochschulen und Universitäten aller Bundesländer bestand. Im Juni 2022 war dieses vom ÖVP-geführten Bildungsministerium mit der Durchführung dieser Studie beauftragt worden. Insgesamt leben laut Sozialministerium rund 15 Prozent der Menschen in Österreich mit einer Behinderung.

Um den Schüler:innen einen barrierefreien Zugang zu Bildung gewähren zu können, braucht es vor allem Geld, das Bekenntnis zu einer inklusiven Gesellschaft – und den politischen Willen. Die Grünen verweisen auf Nachfrage der WZ auf das Thema Förderungen: In der neuen 15a-Bund-Länder-Vereinbarung Elementarpädagogik (2022–2027) „haben wir festgeschrieben, dass sich Gemeinden für die barrierefreie Umgestaltung und entsprechende bauliche Maßnahmen bis zu 30.000 Euro an Förderung abholen können", heißt es. Sowohl Verena Nussbaum von der SPÖ als auch Fiona Fiedler von den Neos – beide sind die Sprecherinnen für Menschen mit Behinderung ihrer Parteien – sprechen sich wiederum für einen Rechtsanspruch auf persönliche Assistenz in der Schule aus. Und zwar für alle Schüler:innen mit Behinderung und ganz unabhängig davon, um welche Art der Behinderung es sich handelt.

Hier gab es zumindest schon einen Teilerfolg: Im November 2023 gab das Bildungsministerium einen neuen Erlass heraus, der den Zugang zu persönlicher Assistenz für Schüler:innen regelt. Nicht ausschließlich jene mit körperlicher Behinderung beziehungsweise einer bestimmten Pflegestufe haben nun ein Recht darauf, wie es davor der Fall war, sondern auch Schüler:innen mit einer Sinnesbehinderung oder Autismus. Der Änderung war vorausgegangen, dass das Handelsgericht Wien festgestellt hatte, dass Kinder und Jugendliche mit Behinderung diskriminiert werden.

Thomas Nayer hatte immer wieder eine persönliche Assistenz, „was eigentlich sehr gut funktionierte”, sagt er. „Bei manchen Tests aber, die ich mit fachfremden Lehrern schreiben musste, war es oft sehr schwierig, weil sie weder von den mathematischen Formeln noch von der englischen Schreibweise eine Ahnung hatten. Ich konnte in der Schule nicht immer zeigen, was ich kann.” Der Mangel an persönlichen Assistenzkräften sei groß – und die Auswahl daher gering. Schließlich fand er aber doch noch die passende Schule für sich und konnte zeigen, was er kann: Er maturierte an der AHS Contiweg in Wien-Donaustadt und schloss als Einziger mit einem Notendurchschnitt von 1,0 die Schule ab. Seit kurzem studiert er an der Wirtschaftsuniversität Wien und entwickelt zudem eine App. Dafür hat er ein Startup gegründet.

Seine Mutter muss jetzt nicht mehr täglich in irgendeinen entlegenen Bezirk Wiens pendeln, um Thomas zur Schule zu bringen und wieder abzuholen. Eines beschäftigt sie aber noch ganz besonders aus Thomas' Schulzeit: „Dass viele so tun, als wäre das Schulsystem inklusiv und es dann auch nicht aussprechen können, dass ein Schüler mit Behinderung in Wirklichkeit nicht erwünscht ist."

QOSHE - Schüler:innen mit Behinderung unerwünscht - Petra Tempfer
menu_open
Columnists Actual . Favourites . Archive
We use cookies to provide some features and experiences in QOSHE

More information  .  Close
Aa Aa Aa
- A +

Schüler:innen mit Behinderung unerwünscht

13 1
14.04.2024

„Die anderen haben mich bis zur Stiege gerollt und stehen gelassen, und dann haben sie gesagt: ,Komm' doch mit, Thomas!' Dann haben sie gelacht und sind ohne mich die Stiegen hinuntergegangen.“ Erinnerungen wie diese hat Thomas Nayer an seine Schulzeit. Der heute 20-Jährige hat Zerebralparese, eine Bewegungsstörung, die für ihn mit Spastiken einhergeht, weshalb er im Rollstuhl sitzt. Er ist intelligent, aufgeweckt und hat Humor – in der Schule musste er dennoch von klein auf kämpfen: gegen Stiegen und Barrieren im Kopf, wie er sagt. Denn von Chancengleichheit und Inklusion von Menschen mit Behinderung ist Österreich weit entfernt.

Und das, obwohl seit 2006 das Bundes-Behindertengleichstellungsgesetz in Kraft ist, das den Bund verpflichtet, allen Menschen mit Behinderung den barrierefreien Zugang zu seinen Leistungen und Angeboten zu ermöglichen. 2016 endete dessen zehnjährige Übergangsfrist. Gleichzeitig gilt seit 1997 Artikel 7 des Bundes-Verfassungsgesetzes: Demnach sind alle Staatsbürger:innen vor dem Gesetz gleich, und niemand darf aufgrund seiner Behinderung ausgeschlossen werden. Konkret auf Bildung und Schule bezogen, gäbe es dann auch noch die UN-Behindertenrechtskonvention, die besagt, dass Kinder mit Behinderung weder vom Unterricht an der Grundschule noch an weiterführenden Schulen ausgeschlossen werden dürfen. Das Recht auf Bildung ist ein Menschenrecht.

Rechtliche Gründe, dass Kinder mit Behinderung einen gleichberechtigten Zugang zu Bildung erhalten müssen, gibt es also genug – doch wie viele Schulen sind barrierefrei? Noch lang nicht jede Schule in Österreich, wie die Recherche der WZ zeigt. Nur Bundesschulen wie Bundesgymnasien oder berufsbildende höhere Schulen seien seit dem Schuljahr 2018/19 barrierefrei, heißt es vom Bildungsministerium. Die Altbauten habe man angepasst, soweit „das technisch möglich war". Auf die Bundesschulen fallen allerdings weniger als 20 Prozent der insgesamt rund 5.200 öffentlichen Schulen in Österreich (764 sind privat), so die Zahlen der Statistik Austria für das Schuljahr 2022/23. Der Rest sind Pflichtschulen wie Volksschulen oder Neue Mittelschulen.

Ab hier wird es kompliziert, was das Nennen konkreter Zahlen betrifft. Die Bildungsdirektionen der einzelnen Bundesländer verfügen nur über Informationen zu den Bundesschulen, für die das Behindertengleichstellungsgesetz gilt und der Bund zuständig ist. Für die........

© Wiener Zeitung


Get it on Google Play