Artikel vom 05.03.2024

Ab heute auf dem Büchermarkt: Die Journalistin Pauline Voss schreibt über die "Generation Krokodilstränen" und die Machttechnik der Political Correctness. Ein Vorabdruck.

Es muss Mitte der Nullerjahre gewesen sein – wir waren zwölf oder dreizehn Jahre alt –, da unterhielt ich mich mit einer Freundin über Politik, und sie sagte: »Ich wäre gerne gegen irgendetwas. Aber es gibt ja nichts, wogegen man sein kann.« Insgeheim sah ich auf ihre Haltung herab: Wenn sich keine Ansatzpunkte für politische Rebellion boten, dann musste man sich diese eben suchen. Und das tat ich.

In unserer Klasse an einem Frankfurter Gymnasium hatte es sich eingebürgert, dass die Clique jüdischer Schüler von allen »die Juden« genannt wurde. Das missfiel mir. Es klang antisemitisch. Also versuchte ich, meine Freunde davon abzubringen. Natürlich sprachen sie weiterhin von »den Juden«, nur mir gegenüber zählten sie fortan umständlich die einzelnen Namen der jüdischen Schüler auf, wodurch jedes Mal eine beklemmende Gesprächssituation entstand, weil jeder von uns heimlich dachte: »die Juden eben«. Mein Gefühl moralischer Überlegenheit wurde dadurch aufgefressen und meine Begeisterung für Sprachregeln getrübt. Die Juden reagierten derweil pragmatisch und nannten sich selbst »die Juden«.

Noch schwieriger gestaltete sich mein Kampf gegen Rassismus. Im Französischunterricht sahen wir antirassistische Kurzfilme und dachten uns Szenen aus, die sich mit Rassismus auseinandersetzten. Ich wollte aber mehr tun. In meiner Fantasie ereigneten sich rassistische Vorfälle, die mein heroisches Einschreiten erforderten. In der Realität ergaben sich solche Gelegenheiten kaum – abgesehen von einer Freundin, die ich beharrlich davon abzubringen versuchte, einen Mitschüler als »Japsen« zu bezeichnen. Und einer Hakenkreuzschmiererei auf dem Korridor, die ich mit Filzstift durchstrich. Ich sehnte mich nach einem Ventil für mein Interesse an Politik, das einen in jenen Jahren zu einem Alien machte. Die politische Sedierung fühlte sich beklemmend an; als müsse ein nachfolgender Sturm um jeden Preis hinausgezögert werden, auch um den Preis der Selbsttäuschung. Das wichtigste Anliegen der Schülervertretungen waren Kakaoautomaten für die Aufenthaltsräume. Es blieb nichts weiter zu tun, als unseren Lebensstandard »in Afrika« zu verbreiten. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, hatte meine Freundin recht gehabt: Es schien nichts zu geben, wofür es sich wirklich zu kämpfen lohnte.

Seit meiner Jugendzeit hat sich einiges verändert. Während ich meinen missionarischen Eifer mit den Jahren abstreifte, entwickelte sich das Missionieren von einem Rand- zu einem Massenphänomen. Wir erleben heute eine Politisierung, vor der es kein Entkommen gibt: Sprache, Essen, Freizeit, Liebe, Sex, Kindererziehung, Fortbewegung, Konsum – alles steht unter Beobachtung. Wo wir früher private Entscheidungen trafen, lastet heute das gesamte Gewicht der politischen Gegenwart auf uns und presst noch der unbedeutendsten Alltagshandlung ein politisches Bekenntnis ab. Sogar die Produkte selbst stellen inzwischen Forderungen auf, wie ich bemerkte, als ich beim Abrollen des Küchenpapiers zwischen aufgedruckten Herzen und Blättchen immer neue Imperative entdeckte: »Do something green today«, stand dort, und: »Kleine Taten verändern die Welt.«

Eine solche Politisierung engt ein. Sie öffnet dem Individuum keinen Raum für politische Forderungen, sondern stellt Forderungen an das Individuum. Es ist ein Zugriff der Politik auf unser Privatleben. Warum aber beteiligen sich so viele junge Menschen an diesem Zugriff? Wie wurde aus einer Generation, die sich für nichts und gegen nichts positionieren wollte, eine Generation von Missionaren?

Ich erinnere mich an eine Demonstration für bessere Bildung, an der ich als Jugendliche teilnahm. Es war ein großer Spaß; nur bei der Parole »Eine Schule für alle, sonst Krawalle!« schwieg ich: Die Drohung mit Krawallen wirkte inmitten der damaligen zuckerwattierten Gedämpftheit lächerlich. Auch wollte mir nicht einleuchten, wie die Abschaffung des Gymnasiums das Bildungssystem verbessern würde. Dass aber politisches Engagement sogar hätte bedeuten können, mich für meine ureigenen Interessen einzusetzen – zum Beispiel für den Ausbau der Begabtenförderung –, wäre mir niemals in den Sinn gekommen. Es stand außer Frage, dass es beim Demonstrieren darum ging, die Chancen für weniger Privilegierte zu verbessern. Rückblickend erscheint mir dies als Kernproblem unserer heutigen Politisierung: An die Stelle der eigenen Interessen ist die Scham als Leitmotiv für politisches Handeln getreten. Wenn ich die politischen Kämpfe meiner Generation betrachte, frage ich mich: Sind es wirklich die eigenen Interessen, die hier verteidigt werden?

So idealisieren Vertreter meiner Generation die sexuelle Emanzipation in einem Maße, als seien sie sämtlich in Klosterinternaten aufgewachsen. Sie sehnen die Auflösung der Geschlechter herbei, um sich von den vermeintlichen Fesseln gesellschaftlicher Konventionen zu befreien. Doch wenn ich mich umsehe, wie meine Generation ihr soziales Umfeld gestaltet – oft in hermetischen Paarbeziehungen, ergänzt um die Familie und wenige enge Freunde – und wie sie sich fast manisch in immer neue sexuelle und geschlechtliche Kategorien einsortiert, dann erscheint es mir, als lege sie sich selbst die Fesseln an, die sie immer vermisst hat. Denn die Ehe schien schon in meiner Kindheit ein eher loser Bund zu sein: Gehe ich die Familien meiner früheren Freundinnen durch, fällt mir kaum eine Familie ein, in der die Eltern nicht seit Langem getrennt sind. Auch Geschlechterrollen wurden schon in den Neunzigerjahren hinterfragt, Eltern verbannten Barbiepuppen aus dem Kinderzimmer, Väter kümmerten sich um die Erziehung. Und während manche von uns als Teenager von einer Hochzeit in Weiß träumten, zeigten sich andere in sozialen Netzwerken knutschend mit ihrer besten Freundin oder outeten sich als bisexuell. Über gesellschaftliche Repression klagten wir nicht.

Ob es die eigenen Interessen sind, die verteidigt werden, frage ich mich auch, wenn sich Frauen meiner Generation durch das generische Maskulinum stärker angegriffen fühlen als durch das patriarchale muslimische Männerbild. Ich erinnere mich nicht, dass wir Mädchen es als ausgrenzend empfanden, wenn wir in Schulbüchern als »Schüler« angesprochen wurden. Die Klassenbesten waren ohnehin meist Mädchen, und sie träumten davon, Ärztin, Architektin oder Schauspielerin zu werden. Schwieriger als die Karriereplanung gestaltete sich damals der Weg zum Sprungturm im Schwimmbad oder zur Schaukel auf dem Spielplatz. Diese wurden oft von muslimischen Jungs besetzt, die noch heute, zu Männern gereift, mit derselben patriarchalen Selbstverständlichkeit den öffentlichen Raum besetzen und Frauen meiner Generationen zwingen, Strategien des Selbstschutzes zu entwickeln. Warum sprechen viele junge Feministinnen lieber über die Diskriminierung, die männliche Migranten angeblich erlitten, als über die Diskriminierung, die von ebendiesen ausgeht?

Auch das Misstrauen meiner Generation gegenüber dem Kapitalismus erstaunt angesichts der Erfolge, die im Westen wie in der ganzen Welt dank der freien Marktwirtschaft erzielt wurden. Junge Menschen, die in einem wohlhabenden liberalen Rechtsstaat aufwuchsen und ihre ganze Jugend der Selbstverwirklichung widmen konnten, untergraben so das Fundament ihrer eigenen Freiheit.

Nicht einmal die Pandemie animierte die Jugend in besonderem Maße dazu, sich politisch für die eigenen Interessen einzusetzen. Im Zweifel plädierten prominente junge Stimmen eher für eine Verschärfung der Maßnahmen als für eine Lockerung. Dabei litt kaum eine Generation so sehr unter den staatlich verordneten Einschränkungen wie diese. Ein Problem, das die junge Altersgruppe besonders betraf, führte also kaum zu ihrer politischen Mobilisierung, während die etwa zeitgleich aufkommenden weltweiten »Black Lives Matter«-Proteste vor allem von jungen Menschen getragen wurden – von denen in Deutschland einige gar nicht selbst von Rassismus betroffen waren.

Warum widmet sich meine Generation Problemen mit wachsender Dringlichkeit, je weiter diese von der eigenen Realität entfernt sind? Man bezeichnet uns als »Generation Schneeflocke«: so zart, dass wir uns nur mit eigenen Befindlichkeiten und der Befriedigung unserer Bedürfnisse beschäftigen. Ich halte diese Interpretation für eine Täuschung. In den meisten Fällen handelt es sich um die Simulation von Bedürfnissen, deren Erfüllung dann mit Furor eingefordert wird. Viele der Tränen, die meine Generation öffentlich weint, sind Krokodilstränen. Für unseren eigenen Schmerz haben wir noch kaum eine Ausdrucksform gefunden.

Dieser Generation fehlt der Zugang zu vielen ihrer Probleme, weil sie politisches Engagement nicht primär als Artikulation von Interessen erlebt hat, sondern als Bewirtschaftung des schlechten Gewissens. Als eine Art moralische Steuer auf den Wohlstand und die Sicherheit, inmitten derer sie aufgewachsen ist. Ihr wurde nicht beigebracht, wie man Wohlstand und Sicherheit verteidigt, sondern wie man sich dafür schämt. Diese Scham aber macht sie anfällig für den ideologischen Zugriff von außen.

Die Lücke zwischen einer völlig entpolitisierten Kindheit und Jugend und dem späteren missionarischen Eifer ist kleiner, als sie erscheint. Wer sich als Teenager für Kakaoautomaten einsetzte, kämpft heute eben dafür, dass der Kakao mit Hafermilch zubereitet wird: Die Besessenheit vom Unwesentlichen ist dieselbe geblieben. Beide Haltungen folgen der Grundannahme, dass Politik bloße Oberfläche ist. Was sie unterscheidet, ist die Agitation, die in der Zwischenzeit im Bildungssystem, vor allem an den Universitäten stattgefunden hat. Gerade weil meiner Generation der Glaube an die politische Selbstwirksamkeit so früh und erfolgreich ausgetrieben wurde, lässt sie sich heute umso leichter für die politischen Zwecke anderer einspannen.

Was wie eine Selbstermächtigung aussieht, ist darum oftmals das Ergebnis einer politischen Instrumentalisierung. Wer aber sind die Nutznießer dieser vermeintlichen Befreiungskämpfe? Wie gelingt es, den kontrollierenden Zugriff als Emanzipation zu tarnen? Warum lassen sich die Weinenden von den eigenen Krokodilstränen überzeugen? Wie verändern diese das politische Gefüge? Und welche Bedürfnisse verbergen sich hinter dem Gefühlsspektakel; wonach sehnt sich diese Generation wirklich? All diesen Fragen wollen wir im Folgenden nachgehen.

Bei diesem Text handelt es sich um einen Vorabdruck aus dem heute (5. März) erscheinenden Buch „Generation Krokodilstränen“, in dem die Journalistin Pauline Voss über die „Machttechniken der Wokeness“ schreibt: Europa Verlag (Berlin / München / Wien / Zürich), 200 S., geb. m. Schutzumschlag, 22 EUR. Erhältlich direkt beim Verlag, in den einschlägigen Online-Bookshops sowie jeder gutsortierten Buchhandlung

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Wokeness: Wenn Scham zum Leitmotiv für politisches Handeln wird

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05.03.2024

Artikel vom 05.03.2024

Ab heute auf dem Büchermarkt: Die Journalistin Pauline Voss schreibt über die "Generation Krokodilstränen" und die Machttechnik der Political Correctness. Ein Vorabdruck.

Es muss Mitte der Nullerjahre gewesen sein – wir waren zwölf oder dreizehn Jahre alt –, da unterhielt ich mich mit einer Freundin über Politik, und sie sagte: »Ich wäre gerne gegen irgendetwas. Aber es gibt ja nichts, wogegen man sein kann.« Insgeheim sah ich auf ihre Haltung herab: Wenn sich keine Ansatzpunkte für politische Rebellion boten, dann musste man sich diese eben suchen. Und das tat ich.

In unserer Klasse an einem Frankfurter Gymnasium hatte es sich eingebürgert, dass die Clique jüdischer Schüler von allen »die Juden« genannt wurde. Das missfiel mir. Es klang antisemitisch. Also versuchte ich, meine Freunde davon abzubringen. Natürlich sprachen sie weiterhin von »den Juden«, nur mir gegenüber zählten sie fortan umständlich die einzelnen Namen der jüdischen Schüler auf, wodurch jedes Mal eine beklemmende Gesprächssituation entstand, weil jeder von uns heimlich dachte: »die Juden eben«. Mein Gefühl moralischer Überlegenheit wurde dadurch aufgefressen und meine Begeisterung für Sprachregeln getrübt. Die Juden reagierten derweil pragmatisch und nannten sich selbst »die Juden«.

Noch schwieriger gestaltete sich mein Kampf gegen Rassismus. Im Französischunterricht sahen wir antirassistische Kurzfilme und dachten uns Szenen aus, die sich mit Rassismus auseinandersetzten. Ich wollte aber mehr tun. In meiner Fantasie ereigneten sich rassistische Vorfälle, die mein heroisches Einschreiten erforderten. In der Realität ergaben sich solche Gelegenheiten kaum – abgesehen von einer Freundin, die ich beharrlich davon abzubringen versuchte, einen Mitschüler als »Japsen« zu bezeichnen. Und einer Hakenkreuzschmiererei auf dem Korridor, die ich mit Filzstift durchstrich. Ich sehnte mich nach einem Ventil für mein Interesse an Politik, das einen in jenen Jahren zu einem Alien machte. Die politische Sedierung fühlte sich beklemmend an; als müsse ein nachfolgender Sturm um jeden Preis hinausgezögert werden, auch um den Preis der Selbsttäuschung. Das wichtigste Anliegen der Schülervertretungen waren Kakaoautomaten für die Aufenthaltsräume. Es blieb nichts weiter zu tun, als unseren Lebensstandard »in Afrika« zu verbreiten. Auch wenn ich es nicht wahrhaben wollte, hatte meine Freundin recht gehabt: Es schien nichts zu geben, wofür es sich wirklich zu kämpfen lohnte.

Seit meiner Jugendzeit hat sich einiges verändert. Während ich meinen missionarischen Eifer mit den Jahren abstreifte, entwickelte sich das Missionieren von einem Rand- zu einem Massenphänomen. Wir erleben heute eine........

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