Stand: 07.05.2024, 15:47 Uhr

Von: Stephan Hebel

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Das Schicksal kaum beachteter Opfergruppen der Nazi-Diktatur wurde in der Bundesrepublik lange verleugnet. Aber nur wer sich erinnert, kann den neuen Faschismus bekämpfen.

Wir schreiben den 8. Mai, und dringlich wie eh und je erscheint es, diesen Tag zur Erinnerung an die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus zu nutzen. 79 Jahre sind seit dem 8. Mai 1945 vergangen, an dem Nazi-Deutschland nach einem langen und zerstörerischen, von ihm selbst begonnenen Krieg kapitulierte. Vier Jahre später, am 23. Mai 1949, entstand mit der Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland als „demokratischer und sozialer Bundesstaat“, wie es in Artikel 20 heißt.

Dringlich wie eh und je? Vielleicht ist der historische Rückblick sogar dringlicher als in manchen Jahren zuvor. Auf deutschen Straßen werden Erinnerungen an Adolf Hitlers SA-Schlägertrupps wach, wenn Menschen angepöbelt, behindert oder ins Krankenhaus geprügelt werden, weil sie sich für demokratische Parteien engagieren. In deutschen Parlamenten sitzt eine Partei, die ebenfalls Erinnerungen weckt, wenn sie Menschen je nach Herkunft oder Lebensweise in mehr oder weniger schutzwürdige Kategorien einteilt.

Fast schlimmer noch: Die Abwertung von Menschengruppen geht weit über die AfD und ihre Stammklientel hinaus. Bärbel Bas, SPD-Politikerin und Präsidentin des Deutschen Bundestages, formuliert es wie folgt: „Was Soziologen ,gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit‘ nennen, kennen wir bis heute. Umfragen zeigen: Auch in der Mitte der Gesellschaft gibt es die Bereitschaft, Minderheiten abzuwerten und Mitmenschen einzuteilen in die, die dazugehören – und die, die außen vor bleiben. Weil sie anders aussehen, anders denken oder anders leben.“

Es wäre natürlich verfehlt, vom millionenfachen Morden der Nazi-Diktatur eine direkte Linie in die Bundesrepublik des Jahres 2024 zu ziehen. Sehr wohl aber ist es geboten, sich der menschenverachtenden Reflexe und Ideologien zu erinnern, die die Nazi-Diktatur mitgetragen haben. Wer das tut, wird leichter erkennen, dass sich ihre Spuren unter der Oberfläche einer funktionierenden Demokratie noch immer nicht verflüchtigt haben. Noch einmal Bärbel Bas: „Untersuchungen weisen darauf hin, dass ein großer Teil der Bevölkerung viele Opfergruppen des nationalsozialistischen Terrors nicht kennt.“ Und damit, wäre hinzuzufügen, auch nicht die historischen Linien, in denen manch gegenwärtige Form von Abwertung und Diffamierung steht.

Die Parlamentspräsidentin schreibt: „Es muss uns zu denken geben, dass ,asozial‘ nach wie vor ein verbreitetes Schimpfwort ist.“ Das Beispiel ist nicht zufällig gewählt, denn die Zitate der Politikerin stammen aus einem Buch, das ohne Übertreibung als Mahnmal für eine Opfergruppe betrachtet werden kann, an die wir uns gerade jetzt dringend erinnern sollten: „Die Nazis nannten sie ,Asoziale‘ und ,Berufsverbrecher‘“, herausgegeben von Frank Nonnenmacher. Der im Frühjahr erschienene Band blickt nicht nur auf kaum beachtete Opfergruppen zurück, sondern er zeigt, wie ihr Schicksal in der Bundesrepublik lange verleugnet wurde. Wie also das Erinnern, eine wichtige Voraussetzung für den sehr gegenwärtigen Kampf gegen den neuen Faschismus, unterblieb.

Nonnenmacher, der bis zu seiner Emeritierung in Frankfurt als Professor für Didaktik der politischen Bildung lehrte, engagiert sich seit Jahren für die Erinnerung an „verleugnete Opfer“. Das hat, so beschreibt er es eindrücklich in dem Buch, auch biografische Gründe: Sein Onkel saß vier Jahre lang, bis 1945, in den Konzentrationslagern Flossenbürg und Sachsenhausen. Er gehörte keiner der Opfergruppen an, die zunächst in der Bundesrepublik – teils mit skandalöser Verspätung – anerkannt und gewürdigt wurden: Jüdinnen und Juden, Homosexuelle, Sinti und Roma, Kriegsdienstverweigerer. Er trug den „grünen Winkel“ der sogenannten „Berufsverbrecher“.

Was waren die „Verbrechen“ dieses Mannes? „Nach schwieriger, durch extreme soziale Not gekennzeichneter Jugend, in der ,Klauen‘ zum Überleben gehörte, wurde er mehrmals u.a. wegen Diebstahls, Bettelei und Hehlerei zu kürzeren Haftstrafen verurteilt“, berichtete Nonnenmacher vor zwei Jahren in der FR. „Nach vollständiger Verbüßung der letzten Haftstrafe wurde er von der Kripo unmittelbar festgesetzt und in das KZ Flossenbürg verbracht – ohne anwaltlichen Beistand, ohne richterliche Anordnung; ohne den Vorwurf einer konkreten Straftat und ohne Möglichkeit der Anfechtung, somit gegen jedes rechtsstaatliche Prinzip.“

Dahinter steckte die Ideologie der Nazis, so Nonnenmacher in seinem Buch, „wonach Menschen, die mehrere Haftstrafen wegen kleinerer Delikte abgesessen hatten, ,bewiesen‘ hätten, dass sie asoziale oder kriminelle Gene in sich trügen und deshalb weggesperrt und vernichtet werden müssten“.

FR-Autor Stephan Hebel kommentiert an dieser Stelle alle 14 Tage aktuelle politische Ereignisse. Wenn Sie Kritik, Lob oder Themenhinweise haben, schreiben Sie an stephan.hebel@fr.de. Bitte merken Sie dabei auch an, ob Sie mit einer Veröffentlichung einverstanden wären.

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Nicht nur Nonnenmachers Onkel wurde in der jungen Bundesrepublik die Anerkennung als NS-Opfer verweigert. Der Autor zitiert ein Schreiben aus der Nachkriegszeit, verfasst von Vorsitzenden einiger Betreuungsstellen für NS-Verfolgte: „Asoziale und kriminelle Elemente schädigen unser Ansehen. Wir haben es nicht verdient, dass man uns in einem Atemzug mit diesen Elementen nennt.“ In einem der vielen bewegenden Erfahrungsberichte von Nachfahren, die das Buch versammelt, zitiert Carola Sendel aus einem Brief, den ihr Großvater nach der Befreiung aus dem KZ von seiner Frau und seinen Schwiegereltern bekam: „Stirb woanders, erspar uns die Schande.“ Erst 2020 erkannte der Bundestag, auch auf Nonnenmachers Betreiben, die Opfergruppen der „Asozialen“ und „Berufsverbrecher“ an.

Es ist angemessen, aber auch einfach, über Empörendes aus der Vergangenheit zu erschrecken. Aber es muss uns motivieren, auch darüber zu erschrecken, dass noch 2001 ein sozialdemokratischer Bundeskanzler namens Gerhard Schröder glaubte, einen rechtsstaatlichen und präventiven Umgang mit Sexualstraftaten durch die Parole „Wegsperren für immer“ vom Tisch wischen zu können. Und auch darüber, dass der Begriff „Rechtsstaat“ heute immer häufiger nicht als Ansporn für einen humanen Umgang und Resozialisierung, sondern als Synonym für immer härtere Strafen verwendet wird – obwohl vielfach erwiesen ist, dass das eben nicht zu mehr Sicherheit vor Straftaten führt.

Wie gesagt: Was wir heute an gefährlichen Parolen hören, ist nicht gleichzusetzen mit den Verbrechen der Nazis. Aber der Blick in die Geschichte kann uns sensibilisieren für das bedrohliche Potenzial, das im populistischen Missbrauch inhumaner Reflexe durch die Politik steckt.

Ende April hat Frankreichs Präsident Emmanuel Macron an der Pariser Universität Sorbonne über Europa gesprochen, zum zweiten Mal seit 2017. Was er sechs Wochen vor der Europawahl skizzierte, ist weder eine positive noch eine „düstere Vision“ („FAZ“). Nüchtern betrachtet, hat er die Konturen einer auf alten Prinzipien fußenden europäischen Politik unter neuen Bedingungen gezeichnet.

Was die Bedrohungslage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine betrifft, setzt Macron weiter auf europäischen Größenwahn: geostrategisches Eigengewicht durch Aufrüstung und französische Atomwaffen als Alternative zum US-„Schutzschirm“. Prognose: Die Aufrüstung wird kommen, eine freiwillige Abkopplung von den USA aber an Deutschland scheitern.

Und sonst? Macrons Europa betreibt eine Angebotspolitik, die vor allem sogenannte Zukunftsindustrien – sprich: die „Wirtschaft“ – fördert. Das ist die vielfach widerlegte Legende der Wirtschaftsliberalen, am Ende werde für die sozial Benachteiligten und Verunsicherten ganz von selbst und ohne Umverteilung von Reichtum genug übrigbleiben. Und weil es längst üblich ist, für soziale Probleme die Migration verantwortlich zu machen, singt Macron das alte Lied vom „Grenzschutz“ durch Flüchtlingsabwehr.

Diese „Visionen“ haben gute Chancen, Wirklichkeit zu werden. Schlechte Aussichten für ein Europa der Humanität und der Gerechtigkeit.

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„Asoziale“ und „Berufsverbrecher“ sind heute noch Schimpfwörter

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07.05.2024

Stand: 07.05.2024, 15:47 Uhr

Von: Stephan Hebel

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Das Schicksal kaum beachteter Opfergruppen der Nazi-Diktatur wurde in der Bundesrepublik lange verleugnet. Aber nur wer sich erinnert, kann den neuen Faschismus bekämpfen.

Wir schreiben den 8. Mai, und dringlich wie eh und je erscheint es, diesen Tag zur Erinnerung an die Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus zu nutzen. 79 Jahre sind seit dem 8. Mai 1945 vergangen, an dem Nazi-Deutschland nach einem langen und zerstörerischen, von ihm selbst begonnenen Krieg kapitulierte. Vier Jahre später, am 23. Mai 1949, entstand mit der Verkündung des Grundgesetzes die Bundesrepublik Deutschland als „demokratischer und sozialer Bundesstaat“, wie es in Artikel 20 heißt.

Dringlich wie eh und je? Vielleicht ist der historische Rückblick sogar dringlicher als in manchen Jahren zuvor. Auf deutschen Straßen werden Erinnerungen an Adolf Hitlers SA-Schlägertrupps wach, wenn Menschen angepöbelt, behindert oder ins Krankenhaus geprügelt werden, weil sie sich für demokratische Parteien engagieren. In deutschen Parlamenten sitzt eine Partei, die ebenfalls Erinnerungen weckt, wenn sie Menschen je nach Herkunft oder Lebensweise in mehr oder weniger schutzwürdige Kategorien einteilt.

Fast schlimmer noch: Die Abwertung von Menschengruppen geht weit über die AfD und ihre Stammklientel hinaus. Bärbel Bas, SPD-Politikerin und Präsidentin des Deutschen Bundestages, formuliert es wie folgt: „Was Soziologen ,gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit‘ nennen, kennen wir bis heute. Umfragen zeigen: Auch in der Mitte der Gesellschaft gibt es die Bereitschaft, Minderheiten abzuwerten und Mitmenschen einzuteilen in die, die dazugehören – und die, die außen vor bleiben. Weil sie anders aussehen, anders denken oder anders leben.“

Es wäre natürlich verfehlt, vom millionenfachen Morden der Nazi-Diktatur eine direkte Linie in die Bundesrepublik des Jahres 2024 zu ziehen. Sehr wohl aber ist es geboten, sich der menschenverachtenden Reflexe und Ideologien zu erinnern, die die Nazi-Diktatur mitgetragen haben. Wer das tut, wird leichter........

© Frankfurter Rundschau


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